Die Träume anderer Leute

Meine heutige Buchbesprechung fängt mit einem Lied an, welches für ein Buch den Titel zur Verfügung stellte und bestens auf den Buchinhalt einstimmt:

2022 erschien dieses Buch von Judith Holofernes, laut einer Zwei-Sätze-Buchbesprechung in einer Zeitung eine „gnadenlose Abrechnung mit dem heutigen Musikgeschäft“. Mal hinter die Kulissen von Konzerten, Spotify und Sony zu gucken, fand ich reizvoll.

Vielleicht schütteln jetzt manche Leser und Leserinnen ungläubig den Kopf, aber ich wusste von Judith Holofernes nur, dass sie Sängerin ist. Wann, wie, warum- keine Ahnung. Sie als Frontsängerin von „Wir Sind Helden“- keine Ahnung. Hits von „Wir Sind Helden“-keine Ahnung. Also las ich das Buch völlig unvoreingenommen und das war vielleicht gar nicht so schlecht.
2012 löst sich die Gruppe „Wir Sind Helden“ auf, u.a. auch wegen der Tatsache, dass Judith, sie ist verheiratet mit Pola, dem Schlagzeuger der Gruppe und beide haben zwei Kinder, das Familienleben auf Konzert-und Promotouren nicht mehr aufrecht erhalten kann, ohne dauernde gesundheitliche Schäden davonzutragen. Nach dem Ende fällt der Druck endlich von ihr ab, endlich kann sie wieder durchatmen, endlich Zeit, ihr „eigenes Ding“ zu machen, sprich, eine CD mit ihren aufmüpfigen Liedern herauszubringen. Ohne Stress mit Garageband! Dann macht sie den Fehler, Berater aus der Heldenzeit mit einzubeziehen und schnell ist sie wieder in der alten Maschinerie des Musikgeschäfts gefangen. Ihre Solokarriere beginnt holprig, denn ihre Lieder handeln vom Muttersein und anderen Themen einer Frau von 38 Jahren, nicht unbedingt kompatibel mit den Ansprüchen der Musikbeschallungssender. Hier ein Beispiel:

Erneut ist ihre seit der Kindheit labile Gesundheit ausschlaggebend, dass sie aus dem Musikzirkus aussteigen muss.
2015 bringt sie einen Band mit Tiergedichten heraus, 2017 erscheint „Ich bin das Chaos“, die zweite Solo CD. Sie hat aus den Fehlern früherer Jahre gelernt, lässt sich nicht durch Verträge einengen, hat keine zu großen Erwartungen an den Erfolg. Trotzdem verlangt ihr diese CD auf andere Weise viel ab. Sie ist eine Frau über 40, deren Jungmädchenstimme nicht mehr zu ihr passt, wie sie selbst spürt.

Der Versuch, ihre Stimme zu verändern, scheitert, denn die Stimme verweigert den Dienst und beendet vorerst das Leben als Musikerin.
Aber sie seitdem hat andere Träume wahr gemacht. Sie bringt u.a. einen Podcast heraus, hat dieses Buch geschrieben und ist nun Hundebesitzerin- es scheint ihr gut zu gehen, Ende des Buches.
Judith Holofernes bekommt dieses Jahr den Fred Jay Preis für ihre Liedtexte verliehen. „Mit ihrem breiten Themenspektrum beweist sie, dass sich politisches Engagement, Verletzlichkeit, Sprachwitz und populäre deutsche Musik nicht ausschließen“, betonte die Jury.
Der Sprachwitz war auch für mich das größte Plus beim Lesen ihres Buches. Holofernes schreibt sehr ehrlich über sich, ihre Familie, Freunde und das Musikgeschäft, was ich ihr hoch anrechne. Sie irrlichtert durch ihr Leben, manchmal hätte das Selbstmitleid vielleicht etwas kleiner sein dürfen.
In den Texten kommen immer wieder Buchtitel vor, von denen sie begeistert schreibt oder sie erwähnt Musikgruppen oder besondere Lieder. Da musste ein Notizzettel her, um das alles nachzuarbeiten- sehr anregend!

Zwei Männer in ihrer eigenen Welt

Im Mai 2018 berichtete ich Ihnen von einem Besuch im Museum von Kevelaer. Dort lernte ich den Künstler Heinz Henschel kennen. (Siehe unten unter „Erdmännchen sind Katzen“).
Noch bis zum 23.7.2023 gibt es in Kevelaer erneut eine Ausstellung mit Werken von Heinz Henschel, die ich Ihnen sehr ans Herz lege!

Im Jahr 2018 wusste man über den Künstler Heinz Henschel nur sehr wenig. Er war 2016 gestorben und hatte seine 1200 Bilder und Objekte Matthias David vererbt, einem Mann, den er aus der Nachbarschaft kannte. David war anfangs mit dieser Erbschaft überfordert, erkannte aber den Wert von Henschels Schaffen und setzte alles daran, die Werke auszustellen.
Diese Kunstwerke und der Mann, der viele Jahre im Verborgenen tätig gewesen war, faszinierten mich von Anfang an und so war ich sehr erfreut, als 2022 dieses Buch über Heinz Henschel erschien, in dem David beschreibt, wie er seit 2016 Puzzlesteine gesammelt hat, um das Leben Henschels zu rekonstruieren und auch seine teilweise bizarren Bilder zu entschlüsseln. (Henschel benutzte u.a. eine Geheimsprache). Das Buch liest sich streckenweise wie ein Krimi.

In die aktuelle Ausstellung fließt nun dieses Wissen um Heinz Henschel mit ein. Es werden z.T. andere Bilder gezeigt und es wird der Kontext erklärt, wann und warum die Bilder entstanden.

Was diese Ausstellung aber darüber hinaus noch so einzigartig macht ist die Tatsache, dass Objekte eines zweiten Künstlers mit ausgestellt werden, dessen Leben auch das eines Außenseiters war. Erwin Hapke lebte in der Nähe von Unna in dem Haus seiner Eltern und hatte die Vorstellung, dass das Haus nach seinem Tod zu einem Museum wird. Das ist schon etwas ungewöhnlich, aber Hapke, der promovierter Biologe war, verließ ab 1981 bis zu seinem Tod 2016 das Haus nie, wurde nur einmal pro Woche von seiner Schwester mit Lebensmittel versorgt und widmete sich ausschließlich dieser Kunst:

Die Fotos beschreiben nicht annähernd, welche Wirkung diese Wände voller gefalteter Objekte haben, wenn man „live“ davor steht. Man ist sprachlos. Und wenn man sich dann jedes einzelne Objekt vornimmt, möchte man sich vor dieser großen Kunstfertigkeit verneigen. Wie in der Ausstellung u.a. zu lesen ist, hat Erwin Hapke unzählige neue Faltformen erfunden, die in Japan, dem Land des Origami, völlig unbekannt sind.

Erwin Hapke vererbte das Haus mit den über 100000 Objekten seinem Neffen Matthias Burchardt. Das Haus wird kein Museum werden, da es komplett restauriert werden müsste und es kein längerfristiger Ort für solche fragilen Papierarbeiten sein kann. Was mit der Sammlung geschieht, ist derzeit noch unklar, auch deshalb ist die Ausstellung in Kevelaer etwas Besonderes.

Ein Tag mit Hermann Hesse (GSLI Nr. 5)

Nicht weit von Lugano liegt der Ort Montagnola , in dem der Schriftsteller Hermann Hesse von 1919 bis zu seinem Tod 1962 gelebt hat.
Ich war bisher kein großer Hermann Hesse Fan. In der Vergangenheit las ich einige Bücher von ihm, die mir gut gefielen, aber Hermann Hesse als Mensch war mir, ohne das ich es richtig begründen konnte, nicht sympathisch. Der Auslöser für den jetzigen Besuch war dieses Buch, das ich vor meinem Urlaub gelesen hatte:

Hermann Hesse wird in dem Buch als sehr höflich, bescheiden und humorvoll, aber auch als teilweise depressiv und schwierig beschrieben. Von seiner ersten Ehefrau trennte er sich wegen ihrer Schizophrenie und gab die drei gemeinsamen Kinder zu Freunden, die Ersatzeltern wurden. Danach zog Hesse nach Montagnola. Die zweite Ehe hielt nur kurz, zu groß war der Altersunterschied. Die dritte Ehefrau, Ninon, behütete und beschützte Hesse wie den heiligen Gral und war im Umgang wohl auch eher kompliziert. Das Haus der Hesses war in Friedenszeiten und während des 2. Weltkrieges ein Anlaufpunkt für viele Berühmtheiten. Einige Freunde ließen sich ebenfalls in Montagnola oder in Nachbardörfern oder in nahen Städten nieder und so gibt es in dem Buch diverse kleine Geschichten über Prominente der damaligen Zeit zu lesen. Mehr gefallen haben mir aber die Lebensläufe und Interviews von den Personen, die dafür sorgten, dass das Leben der Hesses in Montagnola so angenehm war. Da sind beispielsweise der Leibarzt von Hesse, seine Italienischlehrerin, die einen schweren Stand hatte, da Italienisch für Hesse ein Buch mit sieben Siegeln blieb oder der Postbote und seine Familie, die bis zu 1000 Briefe am Tag zu Hesses Haus bringen mussten, als dieser den Nobelpreis für Literatur gewonnen hatte. Auch die Beschreibungen der politischen Landschaft las ich gerne, erinnerten sie mich doch teilweise an „Don Camillo und Peppone“. Das Buch ist reich bebildert mit Alltagsfotos, Fotos von Dokumenten, Briefen und anderen Texten.

Unser Ausflug nach Montagnola hat sich gelohnt. Dank des Museums und des „Hermann Hesse“ Wanderwegs konnte man noch ein bisschen die Welt des Schriftstellers nachempfinden.

Rechts das Hessemuseum in Montagnola, oben der Schreibtisch mit der originalen Schreibmaschine
Links der Friedhof mit dem Grab von Hermann und Ninon Hesse

Als ich jetzt wieder zuhause war, verleitete mich dieses Buch dann, mich an einem Hesse Motiv zu versuchen.

Dieses Buch lege ich allen sehr ans Herz, die das Malen für sich als Hobby pflegen. Hesse beschreibt u.a. wunderbar, welche glücklichen Stunden er verbringt, wenn er alleine ist und malt. Da er mit dem Malen erst angefangen hat, als er über 40 war und die Welt damals in Kriegsangst lebte, ist seine Dankbarkeit, diese Malstunden erleben zu dürfen und alles Schlimme für kurze Zeit vergessen zu können, sehr groß. Es ist nach dem Malen fast süchtig, beobachtet die Welt immer mehr mit „Maleraugen“ und mehrere Abbildungen belegen, wie er im Laufe der Zeit seinen eigenen Stil gefunden hat.

Eins der Lieblingsbilder von Hermann Hesse

Mein zweiter Buchtipp:

Zu diesem Band mit kurzen Betrachtungen und kleinen Geschichten habe ich freundschaftliche Gefühle aufgebaut und lese immer mal wieder einen Text. Der Mensch, der dort schreibt, hat Gedanken, die meinen sehr nahe kommen und die 100 Jahre später oft noch aktuell sind. Auch drücken seine Betrachtungen Gelassenheit und Fokussierung auf das Wesentliche aus, davon schneide ich mir immer wieder gerne eine Scheibe ab!

Der nächste Beitrag zu der Italienreise erscheint heute in einer Woche!

Das Beste was wir tun können, ist nichts

…, wenn wir die Welt wieder lebenswerter machen möchten.


Der Autor verbrachte in jungen Jahren einige Zeit in Frankreich und arbeitete bei dem Paar Marie und Pierre. Dieses lebte auf einem kleinen Bauernhof von dem Geld, das es vom Verkauf von selbstproduziertem Ziegenkäse verdiente. Ansonsten lassen die beiden den lieben Gott einen guten Mann sein. Björn ist begeistert und das Paar wird sein großes Vorbild. In Deutschland zurück, vergisst er allerdings erst einmal seine Vorbilder, fängt zu studieren an, ergreift in Berlin den Beruf eines Redakteurs. Bald jedoch wird ihm die Stadt zu hektisch, zu laut, die Luft ist zu schlecht, das Arbeiten verliert immer mehr seinen Sinn- er will endlich so ein Leben wie Marie und Pierre führen! Um die Rahmenbedingungen für diese Lebensumstellung zu schaffen, kauft er sich einen alten Bauernhof nahe der polnischen Grenze. Seine Freundin fragt er nicht, es wird sich schon ein Weg des Zusammenlebens für sie und ihren gemeinsamen Sohn finden.
Nichtstun und in einem baufälligen Haus wohnen verträgt sich schlecht, das merkt Björn schnell. Frühere Verhaltensmuster brechen immer wieder durch, wie z.B. alles neu im Baumarkt zu kaufen, anstatt es sich bei Nachbarn auszuleihen oder im Internet Sachen zu bestellen, die er gar nicht braucht. Welch ein Glück, dass er als Nachbarn einen Nichtstunprofi hat, der Björn nicht nur einmal den Kopf gerade rückt und ihn in dem langen Lernprozess des Nichtstuns an die Hand nimmt.
Björn ist am Ende des Buches ein großer Nichtstunkönner. Ihm gelingt es, sich immer mehr von dem üblichen Alltagsleben zu verabschieden. Er arbeitet nicht mehr für das neuste Handy, den exotischen Urlaub oder für eine teure Wohnung. Er sitzt auf der Bank unter seinem Birnbaum und beobachtet die Natur, wenn er nicht etwas Anderes tut, das ihm Spaß macht.
Sein Resümee: Man braucht keinen Bauernhof, um aus dem Hamsterrad auszusteigen. Das ist eine Kopf- und keine Ortssache. Was wäre, wenn mehr Menschen so leben würden? Der Welt ginge es besser.

Werner Herzog- ein extremes Leben

Werner Herzog wurde 2009 von der Time zu den „100 einflussreichsten Personen der Welt“ gewählt. Er hat über 60 Filme gedreht, weltweit 23 Opern inszeniert, hat Bücher geschrieben und wär öfter auch als Schauspieler oder Synchronsprecher tätig.
Letztes Jahr erschienen diese Erinnerungen anlässlich seines 80sten Geburtstages.

Schon in seiner Kindheit lernt Herzog, sich in einem extremen Leben zu behaupten. Zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder lebt er während des Krieges in großer Armut. Sie wohnen in Oberbayern in einem abgelegenen Seitental und es ist für die Mutter ein täglicher Kampf, die Familie zu ernähren. Aber der junge Herzog macht das Beste daraus, er ist viel in der Natur, hat Spielfreunde, vermisst kaum etwas. Nach dem Umzug nach München geht Herzog zum Gymnasium, verlässt dieses aber zeitweise und trampt mit 16 alleine nach Griechenland, wo er einige Wochen auf Kreta Fischern bei der Arbeit hilft. In dieser Zeit reift der Gedanke, dass er Filme drehen möchte. Er macht sein Abitur und während er studiert und 19 Jahre alt ist, entsteht sein erster Kurzfilm „Herkules“. Fünf Jahre später bekommt er für seinen Film „Lebenszeichen“ den Deutschen Filmpreis.
Nach Ende der Lektüre bleibt ein „WOW!“ nicht aus. Herzog ist ein besessener Filmemacher, der immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Lebensgeschichten oder Themen ist. Hat er einen neuen Stoff entdeckt, nimmt er alles in Kauf, um den Film zu realisieren. Er bringt sich damit mehrmals in Lebensgefahr, ist häufiger im Gefängnis, erkrankt öfter schwer, lebt auch verarmt, weil er sein ganzes Geld in die Finanzierung seiner Filme steckt. Einige Filme haben ihn psychisch angegriffen und es fällt ihm schwer, über die Dreharbeiten zu „Fitzgeraldo“ zu schreiben oder über die neun Filme, die er in Todestrakten von amerikanischen Gefängnissen gedreht hat.
Herzog könnte sicherlich ein weiteres Buch über Begegnungen mit anderen berühmten Persönlichkeiten schreiben. In seinen Erinnerungen hält er sich diesbezüglich zurück, nur Klaus Kinski, mit dem er fünf Filme drehte, dem Schriftsteller Bruce Chatwin und den vier Frauen, die in seinem Leben besondere Rollen gespielt haben, widmet er längere Abschnitte.
Manches Irrsinnige, was man in Herzogs Buch liest, kann man nicht fassen. Doch Herzogs Erinnerungen basieren auf seinen Notiz-und Tagebüchern und man muss ihm wohl Glauben schenken, wenngleich er für die „extatische Wahrheit“ eintritt, d.h. man darf eine Geschichte so ausschmücken, dass die Wahrheit noch klarer hervortritt.

Bald kommen sie wieder zurück

Im letzten Herbst erzählte ich Ihnen von einem Ausflug zu den Kranich-Rastplätzen in der Umgebung von Diepholz. Mich hat dieser Besuch sehr beeindruckt und ich wollte mehr über Kraniche wissen. In der Stadtbücherei fand ich dieses Buch:

Kraniche leben, abgesehen von der Antarktis und Südamerika, überall auf der Welt. Der Autor Christopher Schmidt hat die Welt bereist und lernte dabei alle 15 Kranicharten kennen und beobachtete sie ausgiebig. Aber anstatt zu fotografieren, brachte er Aquarellbilder von seinen Reisen mit und diese ergänzen seine Texte in diesem Buch auf ganz bezaubernde Weise.

Im ersten Teil des Buches wird Allgemeinwissen über Kraniche vermittelt, wie z.B. Körperbau, Federkleid, Nahrungsaufnahme, Flugverhalten, Paarung, Brutzeit und Aufzucht des Nachwuchses. Auch geht er hier schon auf die allgemeine Bedrohung des Aussterbens der Kraniche ein, wie beispielsweise durch die immer geringer werdende Anzahl von geeigneten Brutplätzen oder dem Wegfall von Nahrungsangeboten. Abgerundet wird der erste Teil durch einen kleinen Ausflug in die Mythologie der Kraniche. Über diese Vögel gibt es unzählige Legenden, Märchen und Überlieferungen, die ein eigenes Buch füllen könnten.

Teil 2 des Buches stellt die fünfzehn Kranicharten im Einzelnen vor. Man erkennt schnell: Kranich ist nicht gleich Kranich. Im Aussehen gibt es Unterscheidungen, die eine Art liebt das Feuchte, die andere lebt in der Steppe. Eine fliegt am liebsten gar nicht, die andere schafft locker mehrere tausend Kilometer an Distanz, Jungfernkraniche fliegen bis in zu 8000 m Höhe, wenn sie den Himalaya überqueren. Bei jeder Kranichart geht der Autor noch einmal detailliert auf die Gefährdung dieser Art ein. Er nennt weitere Gründe, zeigt aber auch auf, welche Gegenmaßnahmen in den letzten Jahren eingeleitet wurden, um das Aussterben aufzuhalten.

Bei Lesen des dritten Teils ist mir das Herz aufgegangen. Christopher Schmidt lebt an der Ostsee in der Nähe von Brutplätzen einiger Graukraniche. Er beschreibt seine Beobachtungen während eines Jahres so liebevoll und man spürt, wie sehr Schmidt der Natur verbunden ist. Er kennt sich auch bei anderen Vogelarten sehr gut aus, weiß Pflanzen und Schmetterlinge zu bestimmen.
Das Lesen und Verweilen in diesem Buch ist genau das Richtige bei winterlichem Schmuddelwetterblues oder wenn man in die Schönheit und die Geheimnisse der Natur versinken möchte.

Annäherung an Marina Abramović

In den letzten Jahren las ich mehrere Zeitungsartikel über die Performancekünstlerin Marina Abramović. Mich stießen ihre Vorstellungen, in denen sie sich über mehrere Stunden oder sogar Tage selbst körperliches Leid antat, ab, für mich waren die Zuschauer in den Museen oder Theatern Voyeure, die nur darauf warteten, dass der Künstlerin etwas Schlimmes passiert. Dafür hatte ich kein Verständnis.
Der letze Artikel erschien Mitte November, es wurde darüber berichtet, dass Marina Abramović die erste Inhaberin der Pina-Bausch-Professur an der Folkwang-Uni sei. Auch dieser Bericht nahm mich nicht für die Künstlerin ein, denn sie beansprucht für sich das Wissen, was gute und was schlechte Kunst ist. Solche rigorosen Aussagen sind mir suspekt.
Aber ich wollte Frau Abramović nicht unrecht tun und so beschloss ich, ihre Biografie zu lesen.

Man bekommt bereits in den ersten Kapiteln über ihre Kindheit und Jugend eine Ahnung davon, warum sich die Gewalt gegen sich selbst wie ein roter Faden durch ihr Werk zieht. Sie ist die Tochter eines Paares, das bei Tito, dem damaligen Machtinhaber Jugoslawiens, hoch im Kurs steht. Im Krieg sind die Eltern mutige und aufopfernde Kämpfer gewesen und Tito belohnt beide mit einem Luxusleben in Belgrad. Während der Vater dies zusammen mit anderen Frauen zu schätzen weiß, bleibt die Mutter im Partisanenmodus und erzieht dementsprechend ihre Tochter mit aller Härte. Sie schlägt sie oft, Zärtlichkeiten kommen nicht vor, Wünsche werden nur dann erfüllt, wenn sie mit Bildung zu tun haben. Marina leidet sehr, erst das Malen verschafft ihr eine Möglichkeit, dem schrecklichen Elternhaus für kurze Zeit zu entfliehen. Sie lernt andere Künstler kennen, erste Performanceversuche finden statt. Geld hat sie nicht, so wohnt sie auch als Erwachsene weiterhin bei ihrer Mutter, die sie permanent kontrolliert.
Ihre Situation ändert sich, als sie auf den deutschen Künstler Ulay trifft und beide sich ineinander verlieben. Mit ihm findet Marina für die nächsten 12 Jahre eine verwandte Seele und ihr gelingt die Abnabelung vom Elternhaus. Beide führen diverse Performances auf, langsam etablieren sie sich in der internationalen Kunstszene. Geld hat das Paar nur wenig und so lebt es u.a. völlig ungebunden vier Jahre in einem Auto. Die beiden beginnen, sich mit anderen Religionen, alten Mythen, Heilungs-und Meditationsmethoden zu beschäftigen und die daraus resultierenden Erfahrungen fließen immer häufiger in ihre Kunstform ein.
Der zunehmender Ruhm als Performancepaar belastet die Beziehung schließlich so sehr, dass sich das Paar trennt. Marina ist am Boden zerstört. Sie fühlt sich mit 40 alt, einsam, ohne Zukunft. Doch dieses Tief stärkt sie noch mehr und macht ihre neuen Vorführungen teilweise noch extremer. Dann lernt sie Paolo kennen, ihre zweite große Liebe. In den nächsten Jahren wird sie zum Superstar, der sich aber nie ausruht, sondern seine Ideen immer weiter vorantreibt. Finanzielle Probleme hat Marina keine mehr, doch machen ihr Gedanken an Alter und Tod zunehmend zu schaffen- neue Themen für ihre Darbietungen.

Marina Abramović schreibt „frei von der Leber weg“, ihr Schreibstil und auch ihre Offenheit überraschten mich positiv. Die Erklärungen zu ihren einzelnen Aufführungen waren aufschlussreich und ich sah mir, nachdem ich das Buch zu Ende gelesen habe, mehrere Videos auf YouTube an.
Mich hat diese Biografie beeindruckt und ich zolle Marina Abramović Respekt. Ihre Kunst verstehe ich nun besser, aber sie wird mir weiterhin fremd bleiben.

Das Weihnachtshausbuch

Kochen gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen und der Weihnachtszeit kann ich seit einigen Jahren immer weniger Gutes abgewinnen. Dieses Buch allerdings bringt meine Einstellungen ins Wanken…

Nigel Slater gehört zu den bekanntesten Köchen in England. Durch ein Interview im Fernsehen lernte ich ihn kennen. Es ging dabei nicht ums Kochen, sondern er sprach freimütig über seine Lebensphilosophie, die mir sympathisch war. Beim Durchstöbern seiner Bücher fand ich dieses, in dem es nicht nur um Kochrezepte geht, sondern auch um sein persönliches Erleben des Winters mit der Weihnachtszeit.
Nigel Slater zelebriert diese Zeit von November bis Lichtmess, an dem die Weihnachtszeit offiziell endet. Neben den üblichen Tätigkeiten wie Dekorieren, Weihnachtsgeschenke aussuchen und verpacken, beschäftigt es sich mit alten Weihnachtsbräuchen, pflegt die Tradition des Kartenschreibens und reist gerne jedes Jahr nach Deutschland und Österreich. Mit ihm schlendert man über die Weihnachtsmärkte von Köln, Nürnberg und Wien. Mit dem staunenden Blick eines Kindes entdeckt er neue Köstlichkeiten, Kerzendüfte und weihnachtliches Kunsthandwerk. Er singt ein Loblieb auf die weihnachtlichen Schaufensterdekorationen großer und kleiner Einzelhändler und drückt sich die Nase an den Fenstern platt.
Zu jedem Kapitel bietet Slater ein oder mehrere Rezepte an, sei es für kalte Wintertage oder für die Weihnachtszeit. Alles ist vertreten: Suppen, Chutneys, Braten, Nachtische, Kuchen, Aufläufe, Getränke. Gerne hätte ich mich bei manchen Rezepten bei Herrn Slater eingeladen! Die dazugehörigen Bilder sind keine Hochglanzfotos, ihre matte Oberfläche trägt dazu bei, dass das Buch wie ein Hausbuch daherkommt, das schon länger im Besitz der Familie ist.
Der Autor erfährt die Winterzeit mit allen Sinnen. Sein jährlich wiederkehrendes Staunen über die Schönheiten dieser Zeit und das Genießen seiner zubereiteten Gerichte beeindrucken selbst mich als Weihnachtsmuffelin.

Noch ein Filmtipp: In dem Film „Toast“ wird die Geschichte von Nigel Slaters Kindheit und Jugend erzählt. Seine Mutter konnte nicht kochen, so gab es immer nur Toasts. Als Nigel neun Jahre alt ist, stirbt sie und er muss sich bald mit seiner neuen Stiefmutter arrangieren. Nigel mag sie nicht und beginnt mit dem Kochen und Backen. Ein Wettkampf beginnt zwischen den beiden- wer kann es besser?

Haben Sie am Anfang einen Moment Geduld mit dem Intro.



Wie überwintern Sie?

Für die Autorin Katherine May gibt es zwei Arten des Winters: Die Jahreszeit und der Winter im eigenen Leben, in dem das „normale“ Leben ruht und fast alles stillsteht. So einen persönlichen Winter erlebt die Autorin, als sie 40 wird und ihr Mann schwer erkrankt. Sie wird zur Maschine, die sich fast rund um die Uhr um ihren Mann kümmert, ihren Sohn versorgt und an der Universität noch tätig ist. Eigenen Bedürfnissen nachzugehen ist kaum möglich. Als es ihrem Mann wieder besser geht, tauchen bei ihr undefinierbare Bauchschmerzen auf, die sie so belasten, dass sie ihren Beruf aufgeben muss. Erst sehr spät stellen die Ärzte die richtige Diagnose, um zu gesunden, braucht es viel Zeit und Ruhe. Diese Ruhe findet sie in den Wintermonaten und sie setzt ihre Krankengeschichte in Beziehung zu allem, was typisch für diese Jahreszeiten ist. Zwei Beispiele:
May wohnt am Meer der englischen Südostküste und Spaziergänge sind für sie Medizin. Sie beobachtet die Natur, die sich auch wie sie selbst ausruht und neue Kräfte für den Frühling sammelt. Sie fährt nach Stonehenge, um dort die Wintersonnenwende zu erleben und beschäftigt sich mit Ritualen, die ihr auf ihrem Weg der Heilung gut tun.
Das Buch ist in Kapiteln aufgeteilt, es beginnt im September und endet Ende März. May schreibt mit großer Offenheit über ihre körperlichen und geistigen Befindlichkeiten und den daraus resultierenden Problemen. Dabei wünscht sie sich in der Gesellschaft eine größere Akzeptanz von persönlichen Winterzeiten. Einen „Happy Summer“ kann es nicht immer geben! Sie hat ein Hohelied auf die kalte Jahreszeit geschrieben und ruft auf, diese Jahreszeit viel mehr für das eigene Innehalten zu nutzen.
Die englische Zeitung „The Guardian“ meinte zu dem Buch:“Wenn Therapie eine Redekur ist, dann ist dieses wunderbare Buch eine Lesekur. Ein Buch wie ein warmer Mantel.“ Da schließe ich mich an.

Klassische Musik- pfui und hui

In den letzten Wochen habe ich zwei Bücher gelesen, die sich mit der Welt der klassischen Musik beschäftigen. Das erste war:

Der Autor, Journalist des Spiegels und davor jahrelang angestellt bei zwei großen Plattenlabels, rechnet mit dem „Klassikzirkus“ generell und speziell mit einigen der größten Stars in dieser Branche ab.
Sein Fazit: Money, Money, Money ist die Devise, der so gerne zitierte kulturelle Bildungsauftrag ist das Feigenblatt. Die Produktionskosten für Opern schrauben sich in die Höhe und es wird viel Geld verschwendet. Denkt man an die Subventionen, die diese Kultursparte für sich immer wieder beansprucht, darf man sich gerne aufregen. Was die Berühmtheiten der klassischen Musikszene angeht, nimmt sich Umbach die kostspieligen Eigenarten des Herbert von Karajans vor, zwei der drei Tenöre des Jahrhunderts, Luciano Pavarotti und José Carreras, bekommen ihr Fett weg, andere Künstler sind z.B. Anne-Sophie Mutter, Justus Frantz oder Daniel Barenboim. Der Autor verfolgt deren Karriereverlauf. Am Anfang ist er hingerissen von der großen Begabung und weiß das Können der Musiker sehr zu schätzen. Doch mit den Jahren verflüchtigt sich nach seiner Ansicht die Genialität, da das große Geld für die Künstler zur treibenden Kraft bei Auftritten wird.
Als ich das Buch beendet hatte, war mir meine Freude an klassischen Konzerten in großen Häusern vergangen. Wie blauäugig war ich gewesen! Nach meinen Internetrecherchen hat es zu diesem Buch keine einstweiligen Verfügungen gegeben, also ist der Wahrheitsgehalt wohl hoch. Das Buch ist 1990, also vor über 30 Jahren erschienen. Von welchen Geldsummen reden wir dann heute im „Klassikzirkus“?

Die Lektüre eines zweiten Buches relativierte glücklicherweise meine Schwarzweißsicht. Dafür meinen Dank an Kent Nagano:

Als ich den Titel seines neuen Buches zum ersten Mal las, war mir etwas unwohl- ein Dirigent schreibt ein Lebenshilfebuch? Aber schnell merkte ich, dass ich mich getäuscht hatte. Kent Nagano ist ein Menschenfreund. Er ist neugierig auf das, was andere Menschen zu sagen haben und möchte von ihnen lernen. In seiner über fünfzigjährigen Karriere traf er mit vielen Berühmtheiten und Musikspezialisten zusammen und zehn von ihnen stellt er in seinem Buch vor. Er beschreibt kurz ihre Lebensläufe und geht dann darauf ein, was er von diesen Menschen für sein eigenes Leben gelernt hat. Unter den zehn sind bekannte Namen wie Leonard Bernstein, Frank Zappa, Alfred Brendel oder Björk dabei. Das Zappakapitel faszinierte mich sehr, ich wusste nicht, dass Frank Zappa viel mehr der klassischen Musik zugewandt war und die Rockmusik quasi nur zum Brötchenverdienen spielte.
Ebenso begeisterte mich das Kapitel über Sarah Caldwell, die 1957 ihr eigenes Opernhaus in Boston eröffnete und mit ihren Ideen und Können die damalige Opernwelt aufmischte.
Der berühmte Komponist Olivier Messiaen hatte eine Ehefrau, die seine sehr komplexen Kompositionen als erste auf dem Klavier spielte. Ihr gelang dies mühelos, während andere Musiker an diesen Stücken verzweifelten. Yvonne Loriod war ihr Name. Eine begnadete Pianistin, die ihr Leben ganz in den Dienst ihres Mannes stellte und darüber als große Künstlerin vergessen wurde.
Kaum jemand wird Richard Trimborn kennen. Ihm setzte Nagano mit einem Kapitel ein Denkmal. Trimborn nannte sich zeitlebens „Korrepititor“ und bereitete Dirigenten und Sänger mit sehr großer Sorgfalt auf das anstehende Konzert oder Oper vor. Sein unglaubliches Wissen war eine Inspirationsquelle für viele und doch hat er bis zu seinem Tod immer weiter geforscht, um noch tiefer in die Bedeutung eines Werks einzudringen.
Diese zehn Lebensläufe und Naganos Ausführungen zu seinem stetigen Lernen haben mich wieder versöhnt. Sie waren, bzw. sind „die Guten“ im Kulturbetrieb der klassischen Musik mit Idealen, die sie nicht verraten.
Ein tolles Buch!