Sibiriens vergessene Klaviere Nr. 3

Dieses Foto hat mit dem Thema nichts zu tun, nach dem gestrigen grauen Tag fand ich einen „sonnigen“ Textanfang einfach nur freundlicher.


Gestern schrieb ich, dass ich mich sofort in die transsibirische Eisenbahn setzen würde, hätte ich eine Gelegenheit. Dies habe ich dem Buch „Sibiriens vergessene Klaviere“ von Sophy Roberts zu verdanken, denn die Autorin schreibt nicht nur über die Geschichte Sibiriens und dessen Klaviere, sondern sie ließ mich beim Lesen mit lebhaften Beschreibungen in die Natur Sibiriens eintauchen. Sibirien vermittelt das Gefühl, dass es noch möglich ist, in diesen unendlichen Weiten noch wahre Abenteuer „ ohne Netz der Zivilisation“ zu erleben. Sie erzählt von Begegnungen mit Menschen, von denen ich gerne viele selbst getroffen hätte, denn es gibt neben Russen verschiedene andere Völkergruppen mit eigenen Kulturen. Man hört oft von der „ russischen Seele“, auf der Fahrt mit der Eisenbahn hätte ich vielleicht die Gelegenheit, einen winzigen Eindruck von ihr zu erhaschen. Ja und ich würde auf der Fahrt auch das andere Extrem Sibiriens kennenlernen: Millionenstädte und zerstörte Landschaft, was meine Idealisierung wieder gerade rücken würde.

Gut, die transsibirische Eisenbahn wird mich vermutlich nie oder zumindest nicht in naher Zukunft kennenlernen, also muss ich mich mit anderen Hilfsmitteln Sibirien weiter nähern. Auch dabei hilft mir das Buch, denn diverse Musiker, die mit Sibirien verbunden waren, bzw. sind, werden vorgestellt. Drei Beispiele:

Der legendäre russische Pianist Swjatoslaw Richter bereiste 1986 Sibirien und trat in vielen kleinen Orten auf. Die Resonanz der Bevölkerung wurde mit der verglichen, die Franz Liszt bei seinen Konzerten in St.Petersburg auslöste: Die Zuhörer gerieten teilweise in Extase oder waren zumindest beseelt von seinem Vortrag. Richters Reise wurde zu einer Legende.

Der sibirische Pianist Denis Matsuev engagiert sich heute sehr dafür, dass der russischen Klaviertradition wieder mehr Beachtung geschenkt wird:

Und wenn Sie noch weitere Zeit erübrigen können, habe ich noch eine YouTube Perle für Sie: Einen 45 minütigen russischen Film (mit englischen Untertiteln) über die Pianistin Vera Lotar -Schewtschenko. Eine außergewöhnliche Frau mit einem außergewöhnlichen Leben. Wenn Sie das Leben nicht so interessiert, fangen Sie den Film erst ab der 16. Minute an. Sie lernen Menschen aus Sibirien kennen, die in ihrer gewohnten Umgebung sich an Begegnungen mit der Pianistin erinnern.

Ach, fast hätte ich noch etwas vergessen: Odgerel Samplinov bekommt ein altes neues Klavier, ein Grotrian-Steinweg aus den 30er Jahren, ein Glücksfund, wie sich herausstellt. Wie das Instrument zu der Pianistin gelangt ist, das ist wieder eine ganz andere Geschichte, aber auch sie erzählt Roberts in ihrem formidablen Buch.

Sibiriens vergessene Klaviere Nr.2

Im SWR 2 gab es im letzten Herbst eine Besprechung zu diesem Buch.

Ich hörte nur einen kleinen Teil der Rezension und gewann den Eindruck, dass es sich in dem Buch hauptsächlich um das Klavierspielen und um die Instrumente selbst dreht. Mein Interesse war geweckt. Als ich dann die Lektüre anfing, war ich anfangs überrascht und enttäuscht. Das Thema „Klavier“ ist für mich eher ein roter Faden, um die Geschichte Sibiriens ab dem 18. Jahrhundert zu erzählen. Darüber zu lesen hatte ich eigentlich keine Lust, doch ich blieb dran und wurde belohnt.

Im letzten Beitrag stellte ich Ihnen bereits die Pianistin Odgerel Samplinov vor, die die Autorin dieses Buches, Sophy Roberts, mit ihrem Klavierspielen so sehr beeindruckte, dass Roberts sich aufmachte, für die Pianistin in Sibirien ein altes wertvolles Klavier zu finden. Auf dieser Karte sind die Orte eingezeichnet, die Roberts während ihrer Reisen besucht hat.

Roberts beschreibt nicht akribisch ihre Reisen, sondern widmet sich Geschichtsepochen. Nach einem ganz kurzen Abriss der gesamten sibirischen Geschichte geht sie ins Detail und beginnt mit der Zeit von 1792 bis 1917. Meine Vorstellung von Sibirien beschränkte sich bisher auf extreme Natur, Kriegsgeschehnisse und den von Solschenizyn beschriebenen furchtbaren Vorkommnissen in den Gulags. Auch in Roberts Buch sind dies Themen, aber ihr Buch zeigt auch ein ganz anderes Sibirien, ein Sibirien, in dem Städte wegen ihres kulturellen Angebots und der Lebensweise z.B. mit Paris verglichen wurden. Musik war damals essentiell, es gab Opernhäuser, Konzertsäle und Musikschulen. Wie in vielen westlichen europäischen Städten gehörte ab der Mitte des 19.Jahrhunderts ein Klavier in den Haushalt einer Familie. So ist es nicht verwunderlich, dass deutsche Klavierfirmen gen Osten zogen, um sich am Markt zu etablieren. Aus dieser Zeit findet Roberts auf ihren Reisen beispielsweise alte Bechsteinflügel oder Instrumente von Becker.
Teil 2 des Buches beschreibt die Zeit von 1917 bis 1991. Oktoberrevolution, der zweite Weltkrieg, die Jahre der UdSSR. Auch in Sibirien hinterließ die Geschichte tiefe Narben. Mit Geschichten einzelner Familien erzählt Roberts von diesen Umwälzungen. Es gibt unendlich viel Schmerz und Leid, aber die Autorin findet auch Geschichten, in denen Menschen für sich kämpfen und gewinnen und bei ihnen ist….ein Klavier.
Teil 3: 1991 bis heute. Wieder große Veränderungen und dieses Mal auch für die Welt der Klaviere. Die letzte Fabrik, die auf russischem Boden Klaviere baut, wurde vor ein paar Jahren geschlossen. Es gibt einige sehr berühmte russische Pianisten, aber im Alltag des heutigen Russlands spielt das Klavier keine große Rolle mehr.

Hier endet der zweite Teil meiner Buchbesprechung. Morgen erzähle ich Ihnen, ob die Suche nach einem alten Klavier für Odgerel Samplinov erfolgreich war, stelle Ihnen drei weitere Musiker vor, die ich durch dieses Buch kennengelernt habe und verrate Ihnen, warum ich sofort eine Reise mit der transsibirischen Eisenbahn machen würde.

Sibiriens vergessene Klaviere Nr. 1

Dieses Buch beendete ich am Wochenende und widme ihm die nächsten drei Blogbeiträge.
Zuerst möchte ich Ihnen die Dame vorstellten, die „Schuld“ daran trägt, dass das Buch geschrieben wurde. Es ist die Pianistin Odgerel Sampilnorov aus der Mongolei. Die Buchautorin besuchte einen Freund in der Mongolei und lernte dort die Musikerin kennen. Sampilnorov spielte in einer Jurte (landestypisches Zelt) auf einem alten Steinway Stutzflügel Stücke von Bach und Roberts war fasziniert von ihrem großen Können. Wie würde die Musik erst klingen, wenn Sampilnorov einen besseren Flügel besäße? Daraus entstand eine Art Schnapsidee, so dass Roberts sich schließlich aufmachte, in Sibirien einem ehrwürdigen Flügel für die Pianistin zu finden. Diese Suche dauerte insgesamt gute zwei Jahre und ist Inhalt des Buches.

Zurück zu Odgerel Sampilnorov. In den beiden Musikvideos spielt sie Stücke des mongolischen Komponisten B. Sharev. Lassen Sie sich verzaubern!

Übermorgen erzähle ich Ihnen noch mehr über das Buch.

Der Herzfaden erreichte mich nicht

Der Roman über die Geschichte der Augsburger Puppenkiste von ihren Anfängen bis zur Ausstrahlung der Jim Knopf Episoden in Fernsehen steht seit mehreren Wochen auf der Bestsellerliste, wurde wohl in fast allen Medien besprochen und dabei z.T. frenetisch gefeiert. Deshalb werde ich keine ausführliche Inhaltsangabe schreiben, sondern merke zum Hörbuch nur an:
Auf die heute spielende Rahmenhandlung hätte ich gerne verzichtet. (Ein pubertierendes Mädchen gerät nach einer Vorstellung auf den Dachboden des Augsburger Puppentheaters, wo sie auf diverse sprechende Marionetten trifft. Das Mädchen findet alles uncool und ist anfänglich nur genervt. Das ändert sich, als sie mit den Marionetten gegen den bösen Kasper kämpfen muss.) In diesem Romanteil gab es meiner Meinung nach Ungereimtheiten und er hätte auch besser lektoriert werden können. Was mich aber in der Hörbuchfassung am meisten störte, war die Stimme von „The Voice“ Christian Brückner ,dem Synchronsprecher in Deutschland. Ich bin von dieser salbungsvollen und z.T. auch weinerlichen Stimme schlichtweg übersättigt und hätte mir gewünscht, dass die jüngere Valery Tscheplanowa, die den anderen Teil des Romans sehr gut liest, auch die Geschichte des pubertierenden Mädchens mit Handy übernimmt, das wäre passender gewesen.
Der Hauptteil des Buches ist besser gelungen, besonders gefielen mir die Passagen, in dem es um das Marionettenspiel selbst geht. Auf Jim Knopf & Co zu treffen, machte mir Freude und das Hörbuch animierte mich, noch einmal tiefer in die Geschichte der Augsburger einzusteigen. Ich schreibe tiefer, weil die Zeit während des Nationalsozialismus zwar auch behandelt wird, mir dies aber recht oberflächlich erschien.
Zusammengefasst: Trotz einiger Ärgerlichkeiten hörte ich wegen des schönen Hörbuchthemas bis zum Ende zu.

P.S. Den Herzfaden braucht der Puppenspieler, um den Ausdruck einer Marionetten zu steuern.

Ein Buch mit Worttropfen

Stellen Sie sich vor: Sie sitzen oder liegen irgendwo, lesen gemütlich und es ist still. Idylle. Doch dann hören Sie ein Geräusch. Sie wollen es ignorieren, schließlich genießen Sie gerade Ihre Lektüre, doch die zum Lesen nötige Konzentration lässt nach, dieses Geräusch piesackt Sie. Sie sehen nach, es ist der Wasserhahn, der tropft. Die Irritation ist schnell behoben, doch die Lust aufs Weiterlesen ist vergangen.
Dieses Gefühl hatte ich auch bei dem Buch von Esther Kinsky.

Der Unterschied: Es war kein Wassertropfen, der mich gestört und immer mehr genervt hat, es waren mehrere Worttropfen im Buch.
Kinskys Buch „Am Fluss“ war 2014 für mich ein Ereignis. Ihre Fähigkeit, noch so Unbedeutendes in einer wunderbaren Sprache zu charakterisieren, beeindruckte mich sehr. Jetzt wollte ich mir „Hain“ gönnen, in dem sie über ihre Aufenthalte in Italien schreibt.
Kinskys Lebenspartner(?) M. ist gestorben und sie fährt daraufhin im Winter in eine kleine Stadt bei Rom, wo sie ein Haus auf einem Hügel für mehrere Monate mietet. Durch das Küchenfenster hat sie einen Blick auf den Friedhof, der auf dem gegenüberliegenden Hügel mit seinen hohen Mauern einer Trutzburg ähnelt. Dank der Lage ihrer Unterkunft breitet sich auch ein Teil der Stadt wie eine Miniaturlandschaft vor ihr aus, die sie ebenfalls ausgiebig beobachtet. Eine andere Beschäftigung ist das Erkunden der Gegend zu Fuß. So erzählt sie in kurzen Kapiteln von der Landschaft, den Bewohnern, besonders gerne von Tieren und dem italienischen Winterhimmel mit seinen unwiderstehlichen Blautönen.
Im zweiten Teil des Buches erinnert sich die Autorin an mehrere Urlaube in Italien in den 70er Jahren. Der Vater liebte das Land, die Sprache und die Geschichte. Frau und zwei Töchter mussten immer mit, viele Kirchen, Museen und Ausgrabungsstellen lernte Kinsky auf diese Weise kennen.
Gibt es Eindrücke, die sie aus ihrer Kindheit als erwachsene Frau noch einmal abrufen kann? Welche Gefühle löst Altbekanntes bei ihr aus? Davon handelt das letzte Drittel des Buches. Kinsky fährt nach Ferrara, wandert in der Poebende, sieht sich die Mosaiken von Ravenna an.

Vor fast drei Jahren schrieb ich in meinem Blog über einen Winterurlaub in Rimini. (siehe unten). An diesen musste ich beim Lesen sehr oft denken, denn der „Geländeroman“, wie das Buch auch genannt wird, bot mir ein Fundus an Erinnerungen. In den ersten beiden Kapiteln schwelgte ich geradezu und erfreute mich dabei an der überraschenden, aber immer stimmigen Sprache. Diese Freude verging mir dann allerdings im dritten Kapitel. Unsägliche Wortwiederholungen wurden für mich zu ärgerlichen Worttropfen. Ein paar Beispiele: Platz 1: Gestrüpp und struppig, Platz 2: ausgefranst, Platz 3: Obdach, Platz 4: gestutzt, Platz 5: bitterkalt

Teil eins und zwei in „Hain“ sind großartig, bei Teil 3 bin ich ratlos. Wie konnten Autorin und Lektorat plötzlich so schludern?

Sind Sie Ihrem Körper dankbar?

Der letzte Satz des Buches: „Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten.“ Paul Auster ist 64 Jahre alt, als er 2011 dieses Journal schreibt und er widmet das Buch seinem eigenen Körper. Was hat dieser in über sechzig Jahren aushalten müssen? Welche Freuden durfte er genießen? Was hat sein Körper für den Menschen Paul Auster alles getan, damit dieser so ein Leben führen durfte?
Die Aufzeichnungen beginnen mit großen und kleinen Blessuren, die das Kind und der Jugendliche sich beim Sport, bei Raufereien oder durch Unachtsamkeit zugezogen haben. Es folgen die Sturm und Drang Jahre. Auster verliebt sich schnell, besonders in Frauen, bei denen er ein inneres, individuelles Leuchten entdeckt. Allerdings sind diese Jahre nicht nur lustvoll, sein Liebesleben fordert auch gesundheitlichen Tribut.
Als junger und armer Schriftsteller zieht er insgesamt 21mal in den USA und in Paris um, mehrmals haust er in verwahrlosten Löchern. Eine frühe Ehe, sein erstes Kind hinterlassen Spuren, ebenso die baldige Scheidung. Erst als er seine zweite Frau kennenlernt, inzwischen ist er über dreißig, wird sein Leben etwas ruhiger. Sie kaufen gemeinsam ein Haus in Brooklyn, bekommen auch ein Kind, beide sind erfolgreiche Schriftsteller ohne große finanzielle Sorgen.
Auster schreibt nicht über das erste graue Haar und die zunehmende Anzahl von Falten bei einem Mann „im besten Alter“. Ein neues Kapitel beginnt, als seine Eltern und Schwiegereltern krank werden und sterben. Gedanken über den Tod nehmen immer mehr Raum ein, er hat eine schlimme Panikattacke und muss danach Medikamente einnehmen, um nicht weiter darunter zu leiden. Er registriert bei sich geistige Veränderungen, die u.a. einen schweren Autounfall zur Folge haben, bei dem nur durch viel Glück nichts Schlimmes passiert. Körperlich machen sich Unpässlichkeiten bemerkbar. Auster gesteht diese seinem Körper zu, denn unzählige Aufgaben verrichtete er jahrzehntelang ohne großes Murren. Eine Zeit beginnt, in der Auster mehr denn je für ruhige, liebevolle und gesunde Augenblicke dankbar sein wird- der Winter.
Besuchte Paul Auster früher auf der Frankfurter Buchmesse den Rowohlt Stand, war das Chaos vorprogrammiert dank vieler junger Buchhändlerinnen, die ihn umschwärmten, ich mittendrin. So las ich dieses Buch anfangs mit viel Interesse. Ein weltberühmter Schriftsteller stößt sich selbst vom Sockel. Er ist „nur“ ein Mensch mit Schwächen, Fehlern und Verletzungen, der weiß, dass er jetzt alt ist. Seine Schilderungen sind dabei nicht nur eine Aneinanderreihung von Körpergeschichten, sondern sie erzählen auch lebendig von einem Leben in den USA nach dem 2.Weltkrieg.
Aus meinem Interesse wurde beim Lesen schließlich Faszination, denn seine Körpererinnerungen ließen mich auch über meinen Körper nachdenken. Was musste er mit mir alles aushalten? Meine eigenen alten Geschichten waren plötzlich wieder präsent. Ich werde sie aufschreiben, damit ich sie nicht endgültig verliere und auch als Mahnung an mich, öfter meinem Körper ein Dankeschön zu sagen.

P.S. Diesen Lesetipp bekam ich übrigens beim Lesen dieses Buches:

Die Protagonistin verschlingt Bücher und da fallen halt auch Lesetipps ab. Buchbesprechung siehe unten „Ein Tattoo zum 75. Geburtstag“.

P.S.2: Am Donnerstag gibt es einen Füße-Beine-Hüfte Beitrag.

Ein lebenslanges Abenteuer

Jhumpa Lahiri verliebt sich 1994 bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien in die italienische Sprache. Damit beginnt für sie, wie sie selbst schreibt, ein bis heute andauerndes Abenteuer.

Die Autorin hat indische Wurzeln, ist aber in den USA aufgewachsen. Ihre Muttersprache ist Englisch und doch hat sie das Gefühl, dass die italiensche Sprache in ihr „schlummert“ und nur geweckt werden will. Sie beginnt damit, sich Lehrbücher zu kaufen, doch beim nächsten Aufenthalt in Italien, sechs Jahre später, merkt sie, dass das Wissen aus Büchern sie nicht sehr weit bringt, ihr fehlt die Sprachpraxis. Wieder zurück in der Heimat, engagiert sie in den nächsten Jahren drei Lehrerinnen, die sie wöchentlich trifft. Ihr Italienisch macht enorme Fortschritte, doch das reicht nicht, um Lahiris Streben nach einem perfekten Italienisch zu stillen. Inzwischen ist sie verheiratet, hat zwei Kinder und ist eine erfolgreiche Schriftstellerin. Sie zieht mit ihrer Familie mach Rom. Anfänglich noch immer mit einem Wörterbuch bewaffnet, ist sie nach ein paar Monaten endgültig in die Sprache eingetaucht und schreibt ihre erste Kurzgeschichte auf Italienisch. Diese Geschichte ist in dem Buch abgedruckt und besticht durch einen fokussierteren Schreibstil. Lahiri liest nur noch italienische Zeitungen und Bücher. Noch immer entdeckt sie täglich neue Wörter und Redewendung, reibt sich mit nicht nachlassendem Vergnügen an Wortverwechslungen und Sprachabsurditäten. Englisch wird ihr dabei zunehmend fremd, sie mag eine Zeitlang diese Sprache nicht mehr, was sie als Schriftstellerin immer mehr verunsichert und schon bald fühlt sie sich völlig entwurzelt.
Nach drei Jahren muss sie 2014 Rom verlassen und kehrt in die USA zurück. Wird ihre grande amore überleben oder verblassen?
Dieses Buch erschien 2015 zuerst in Italienisch, ein Jahr später in einer englisch-italienischen Fassung. 2018 kam Lahiris neues Buch „Wo ich mich finde“ heraus, auch dieses hat sie auf Italienisch geschrieben.

Diese Besprechung ordne ich auch in der Kategorie „Französischstunde“ ein, denn das Buch inspirierte mich, meine Versuche, mein Französisch aufzupolieren, auch als ein dauerndes Abenteuer anzusehen, bei dem man auch viel Spaß haben kann, wenn man sich mit der Sprache beschäftigt. Meine neusten französischen Lieblingsredewendungen sind z. Zt.:

Appeler un chat un chat- das Kind beim Namen nennen

étre fleur bleu- naiv sein

voir la vie en rose- optimistisch sein

Lahiris Schilderungen, wie sich das Verhältnis zu ihrer Muttersprache ändert und was das für sie als Schriftstellerin bedeutet, fand ich sehr interessant. Was ich mir noch in dem Buch gewünscht hätte: Ein Kapitel, in dem sie darüber schreibt, wie sie die anderen Familienmitglieder, die kein Italienisch sprachen, überzeugte, nach Rom zu ziehen, damit sie selbst ihre Lust am Italienischen noch mehr ausleben konnte.

Ein Tattoo zum 75. Geburtstag

Um Sie auf die Buchbesprechung einzustimmen, vorab noch zwei Bilder aus dem Steinskulpturenpark, über den ich vorgestern geschrieben habe. So viele Bücher hatte ich in diesem Urlaub nicht mit…

Nur jemand, der an Abibliophobie (= die fürchterliche und lähmende Angst, dass der Lesestoff ausgeht) leidet, würde so einen Stapel mitnehmen:

Sind die verschiedenen Steinarten nicht herrlich?

Meine Urlaubslektüre hatte nichts mit Kunst zu tun, sondern war ein Hohelied auf den Optimismus.

Kurz vor ihrem 75. Geburtstag stürzt Morayo da Silva in ihrer Wohnung und bricht sich eine Hüfte. Sie kommt zuerst ins Krankenhaus, danach in die Reha. Dort hat sie viel Zeit, sich an ihr früheres Leben zu erinnern. Sie war in jungen Jahren die Frau eines nigerianischen Diplomaten, die von der Welt viel sah und ein luxuriöses Leben führte. Doch irgendwann hatte sie genug von der Treulosigkeit ihres Mannes und wollte nicht mehr länger die Rolle der Vorzeigefrau spielen. Sie verlässt ihn und wird Literaturprofessorin. Viele glückliche Jahre folgten.
Seit vielen Jahren lebt sie jetzt schon alleine und sehnt sich öfter nach ihrem Heimatland Nigeria zurück. Doch lässt sich Morayo von diesen manchmal traurigen Momenten nicht unterkriegen, denn sie ist eine wahre Lebenskünstlerin. Sie fährt beispielsweise noch ein schickes Sportcoupé mit dem Namen „Buttercup“, will auch zum anstehenden Geburtstag wieder etwas Neues ausprobieren, dieses Mal soll es das Tattoostechen sein, und knüpft immer wieder neue Bekanntschaften. So lernt sie in der Reha auch Reggie kennen. Er besucht jeden Tag seine demente Frau und Morayo und Reggie schwimmen bald auf der selben Wellenlänge.
Als Morayo entlassen wird, ist sie voller Lebensfreude und Neugierde auf das, was die Zukunft noch für sie bereit hält.
Morayos Geschichte wird nicht nur von ihr selbst erzählt, sondern es kommen auch Freunde, Nachbarn und ihr Ex-Ehemann zu Wort. Deren Beziehungen zu Morayo zeigen noch einmal andere Wesenszüge dieser tollen Frau und ich wünschte mir, zum Bekanntenkreis Morayos zu gehören.

Bis Samstag!

Ein Reiseführer, nicht nur für Corona Zeiten

Reisebeschränkungen hin oder her, mit diesem „Reiseführer des Zufalls“ sind sie für alle Eventualitäten gut gerüstet, sogar wenn Sie zuhause bleiben und unbekannte Stadtteile Ihrer Heimatstadt erkunden.
Das Buch besteht aus vier Teilen.

Das Abcdarium macht den Anfang:

Kurze Essays zu den Themen „Alltag“, „Das Banale“, „Experimente“, „Serendipität“, „Erwartungen“und „Zufall“ ergänzen das ABC.

Und dann geht es los mit Stadtexperimenten

und vielen ungewöhnlichen Vorschlägen, was man in einer Stadt tun kann, wenn Sehenswürdigkeiten und Museen schon bekannt oder mal nicht von Interesse sind. Beispiele: Was sehen Sie, was alles blau ist? Kaufen Sie sich das hässlichste Souvenir der Stadt und verschenken es freudestrahlend weiter. Was gibt es kostenlos in dieser Stadt?

Dazu kommen Tipps, wie man auch einmal anders fotografieren kann. (z.B. das Handy/ den Fotoapparat immer nur vor den Bauch halten).

Die ersten Bauchfotos mit und ohne Bearbeitung

Abgerundet wird alles durch diverse Fragen nach der eigenen Befindlichkeit, während man mit dem Reiseführer des Zufalls eine Stadt kennenlernt. Welche Geräusche hört man? Würden Sie in dieser Stadt gerne wohnen? Haben Sie etwas entdeckt, das Sie noch nicht kannten? Was könnte man in der Stadt verbessern?
Das Buch bringt einen dazu, sich mit dem Gesehenen und Erlebten ausführlich auseinander zu setzen und gibt viele Denkanstöße. Ich habe mir in ein leeres Notizbuch diverse Fragen und Ideen aufgeschrieben und freue mich schon auf meinen ersten „Zufallspaziergang“ im November. Erst flanieren und dann in einem Café das Notizbuch mit hoffentlich vielen Eindrücken füllen, so ist der Plan.

Könnten Sie das, könnte ich das?

Moth und Raynor Winn sind ein Ehepaar Mitte 50 aus Wales, das den West Coast Path (1014 km) fast komplett erwandert. Der Grund: Sie beide besitzen nichts mehr und müssen von 48 Pfund (ca. 53 Euro) staatlicher Unterstützung pro Woche leben. Wegen eines unrechtmäßigen aber endgültigen Gerichtsurteils wurde ihre Farm komplett gepfändet, sie haben kein Zuhause mehr. Ihre Kinder sind Studenten mit wenig Geld, Freunden wollen sie nicht zur Last fallen, während sie auf die Zuteilung einer Sozialwohnung warten. Moth und Raynor hoffen, dass die Wanderung ihnen helfen wird, den Schock über den Verlust zu überwinden, den Kopf klar zu bekommen und neue Perspektiven zu gewinnen.
Abgesehen von dem wenigen Geld, das sie bekommen, ist die unheilbare Krankheit von Moth ein weiteres Damoklesschwert, das über dem Paar hängt. Oft kann Moth wegen seiner Schmerzen nicht laufen. Das Alter der beiden macht das Wandern bei großer Hitze, das Übernachten auf Beton, kaum geschützt von ihrem Zelt, und die unterschätzten Steigerungen des Küstenwegs nicht leichter. Doch die beiden geben nicht auf und lernen die Vorzüge des völligen Ungebundenseins und des Lebens in der Natur kennen. Die Menschen, denen das Paar begegnet, sind zumeist freundlich, aufgeschlossen und auch hilfsbereit, so dass am Ende der Geschichte ein Neuanfang in Cornwall in Aussicht steht.

Ich fand das Buch manchmal etwas langatmig, auch störten mich einige Details. Aber das sind nur Kleinigkeiten. Was dieses Ehepaar körperlich, aber vor allen Dingen mental geleistet hat, machte mich beim Lesen oftmals sprachlos.

Der nächste Beitrag am Donnerstag wird herzig.