Ich heiße James

Erinnern Sie sich an Mark Twains Geschichte von Huckelberry Fynn? Wenn ja, dann kennen Sie auch James!
Huck wohnte zeitweise bei der Witwe Watson, die einen Sklaven Jim besaß. Jim ist dieser James und seine Geschichte wird von dem amerikanischen Autor Percival Everett auf eine ganz unglaubliche Weise erzählt.

Huck und Jim sind Freunde und das Leben geht seinen Gang. Das ändert sich schlagartig, als es Gerüchte gibt, dass die Witwe Watson Jim alleine verkaufen will. Was wird dann aus seiner Frau Sadie und Tochter Lizzie? Jim taucht für ein paar Tage unter und fährt zu einer Insel mitten im Mississippi, um zu überlegen, wie und wohin er und seine Familie flüchten soll. Kurze Zeit später taucht Huck dort auf. Er hat mit seinem Vater Ärger und erzählt Jim, dass er inzwischen als entlaufender Sklave gesucht wird. Huck und Jim können nicht auf der Insel bleiben und eine abenteuerliche Flucht beginnt. Die beiden haben permanent Angst vor Verfolgung, nur selten finden sie etwas Ruhe. Sie treffen auf argwöhnische Weiße und auf andere Sklaven, mehrmals werden die beiden getrennt, finden aber immer wieder zueinander. Jim erfährt, dass inzwischen Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten herrscht, er muss wieder nach Hause zurück. Aber Frau und Tochter sind inzwischen an eine Sklavenzuchtfarm verkauft worden und Jim macht sich mit Huck auf, die beiden zu befreien.

In der spannenden Handlung des Romans gibt es Beschreibungen von schrecklicher Gewalt und Ungerechtigkeit gegenüber Sklaven. Ganz anders dagegen die Szenen, die die weiße Bevölkerung bloßstellen und die witziger nicht sein könnten. Wenn Weiße auftauchen, unterhalten sich Sklaven in einem nuscheligen Slang, der den Weißen bestätigt, dass die Ns (ja, das N Wort kommt mehrmals vor) dumm sind. Sind sie unter sich, wechseln sie in die Hochsprache und zeigen sich als kluge und erfahrene Menschen. Von Kindesbeinen an haben sie den Slang lernen müssen, um die Weißen in Sicherheit zu wiegen. Nie darf man sich in der Sprache vertun, selbst bei Huck hält Jim die Fassade so gut es geht aufrecht.

So ist das Buch schon etwas Besonderes, aber der Mensch Jim adelt die Geschichte. Er ist hochgebildet, denn Lesen und Schreiben sind seine Leidenschaften. Als beispielsweise eine giftige Schlange ihn auf der Flucht beißt, diskutiert er im Fiebertraum mit Voltaire, in einem späteren Traum unterhält er sich mit John Locke. Er muss sein Leben aufschreiben, das Leben eines Sklaven im gelobten Amerika und er beginnt:

Es ist grandios, wie der Autor in einem Abenteuerroman die amerikanische Geschichte umschreibt und Sklaven zu den eigentlichen Intellektuellen des Landes werden lässt. Erfreulich, dass es in den USA hohe Wellen geschlagen hat.

Iowa aus aktuellem Anlass

Heute finden im US-Bundesstaat Iowa die Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl statt. Dazu habe ich das passende Buch:

Die Autorin wird von einer privaten Eliteuniversität als Gastprofessorin für ein paar Wochen eingeladen. Mit ihr reist die bekannte Musikerin Christiane Rösinger, die in der Unistadt mit 8000 Einwohnern ein Konzert geben soll. Stefanie Sargnagel beschreibt den Alltag in der Einöde von Iowa, erzählt außergewöhnliche Geschichten und widmet sich dem Beobachten von skurrilen Typen.
Ein zweites Thema in diesem Buch ist das Verhältnis der beiden Frauen. Beide besitzen sehr unterschiedliche Temperamente und Erfahrungsschätze. So ist Stefanie 37 und Wienerin, Christiane wohnt seit Jahrzehnten in Berlin und ist 60. Meistens sind die beiden beste Freundinnen, sprechen über alles, helfen und trösten sich. Doch manchmal ziehen auch dunkle Wolken auf und dann gibt es auch mal einen ordentlichen verbalen Schlagabtausch. Das liest sich ganz prima, da der Schreibstil z. T. schön schnodderig und manchmal auch lakonisch ist. Am Ende des Buches habe ich bedauert, bei der Reise nicht dabei gewesen zu sein,

Möchten Sie die beiden Protagonistinnen kennenlernen? Hier sind sie!

Ein Leben mit fünfzehn Kugeln

An der Westküste der USA nennt man ihn in den 50er Jahren voller Ehrfurcht „Fast Eddie“, denn der talentierte junge Mann hat alle Größen in der Billardszene bereits besiegt. Jetzt ist er zusammen mit seinem Freund und Betreuer Charlie im Auto unterwegs Richtung Osten, um neue Herausforderungen zu suchen. Während Charlie weiterhin daran festhält, Eddie langsam zum besten Spieler der USA aufzubauen, ist Eddies Selbstbewusstsein so groß, dass er in Chicago gegen die Billardlegende Minnesota Fats antreten will. Es kommt zum Streit und die beiden trennen sich.
Eddie spielt fast zwei Tage lang zig Partien gegen Minnesota Fats. Zuerst ist er mehrmals ein strahlender Sieger, doch am Ende verliert er sein ganzes Geld und ist mittellos. Glück hat er, als er bei der Studentin Sarah unterkommt und dort wohnen darf. Er versucht, in zwielichtigen Kneipen Geld zu verdienen. Nach einem Spiel wird er als Poolhai beschimpft und man bricht ihm beide Daumen. Eddie ist an einem Tiefpunkt angelangt.
Während des Spieles gegen Minnesota Fats hatte Bert, ein reicher Geschäftsmann und Pokerspieler, Eddie beobachtet und bietet ihm danach eine Zusammenarbeit an. Bert kennt viele reiche Männer, die sich für gute Billardspieler halten, die gegen Eddie aber keine Chance hätten. Man könnte gemeinsam viel Geld verdienen…Damals lehnte Eddie dieses Angebot ab, doch jetzt sieht er es als Chance, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Zuerst scheint diese Partnerschaft die richtige Entscheidung zu sein, doch dann kommt es zu einem zweiten Duell mit Minnesota Fats und Eddie erkennt, welchen Fehler er gemacht hat.

Bereits die ersten beiden Seiten des Romans haben mich fasziniert und mich in die Geschichte hineingezogen. Beschrieben wird, wie ein alter Billardsaal aussieht, welche Gerüche und Töne sich vermischen und welche Typen von Spielern „abhängen“. Die Stimmung des Romans ist eine Mischung aus Western und Roman- bzw. Film noir. Man kann dem Diogenes Verlag dankbar sein, dass er diesen Roman, der als Vorlage für den 1961 erschienen Film „Die Haie der Großstadt“ mit Paul Newmann diente, jetzt in neuer Übersetzung anbietet.

Ein Krimi als Schlafdieb

Cy Baxter ist ein engagierter Milliardär in den USA. Seine Firmen produzieren Produkte, die die Welt verbessern sollen, Baxter hat den Ruf eines Weltretters. Besonders ist er motiviert bei der Entwicklung der Überwachungssoftware „FUSION“, die zukünftig Verbrecher in kürzester Zeit ermitteln soll. Michael, sein Freund und der Bruder seiner Frau Erika, wurde ermordet und der Täter ist immer noch nicht gefasst.
Die CIA ist an einer Zusammenarbeit mit Baxter interessiert und will die Weiterentwicklung von FUSION finanziell großzügig unterstützen. Allerdings verlangt sie eine Demonstration des Überwachungsprogramms. Baxter sucht daraufhin zehn Freiwillige, die für 30 Tage untertauchen und er und sein Stab müssen die zehn „Zeros“ in diesem Zeitraum finden. Wer es schafft, FUSION zu überlisten, erhält eine Million Dollar Belohnung.
Der Milliardär ist siegessicher und schnell fängt er die ersten Kandidaten. Doch dann verhält sich eine bis dahin eher als schwache Kandidatin eingestufte Bibliothekarin ungewöhnlich und überrascht durch unerwartete Cleverness und Abgebrühtheit. Die Zeit läuft Baxter davon. Er verliert seine edle Gesinnung und wird zum Mörder, da er plötzlich der Gejagte ist.

Mehr darf ich nicht verraten.

Nur so viel: Der Krimi ist ein Schlafdieb! Das Buch ist leicht zu lesen und äußerst spannend, da die Handlung mehrere Kehrtwenden macht. Und wenn man sich dann endlich von dem Buch gelöst hat, kann man nicht einschlafen, denn besonders die Passagen, die die aktuellen Möglichkeiten der Überwachungssoftware dank verbesserter Algorithmeneigenschaften beschreiben, halten einen wach. Gruselig!

Es waren einmal zwei Supermärkte in einer Wüste

Der Name des Jungen, den Sie auf dem Buchumschlag sehen, lautet Tom Samuel Elliott.

Er war in seiner Kindheit das Werbegesicht für die Popcorn Fabrik Buffalo Rocks in Cornado, für die fast alle Einwohner seines Heimatorts Shellawick arbeiten.
Shellawick liegt am Rand einer schwarzen Steinwüste, genannt der „Schuttfuß“. Es ist heiß, es ist immer staubig, es ist trostlos, das Wort „Blumenverkäufer“ ist das Schimpfwort für einen schwachsinnigen Menschen. Nur Mais in Form von süßen Krapfen oder in Form von Alkohol bringen ein bisschen Freude.
Der Bürgermeister von Shellawick ist der Bruder des Personalchefs der Popcorn Fabrik und für beide steht der Gewinn der Fabrik an erster Stelle. Leute aus Shellawick, die das kritisch sehen, sind erklärte Feinde der Brüder. Tom Elliot seht dabei ganz oben auf der Liste. Nach der Schule verlässt er als einziger Shellawick und studiert vier Jahre Literatur. Als sein Vater Selbstmord begeht, kehrt er zu seiner Mutter zurück und eröffnet einen kleinen Supermarkt von dem Geld, das er in seiner Kindheit als Werbefigur verdient hat. Fast alle Läden sind inzwischen in Shellawick verschwunden und so wird der Supermarkt zur Anlaufstelle der Einwohner. Nicht unbedingt wegen des Einkaufens, sondern um zu reden und sich auch mal das Herz auszuschütten. Tom ist ein guter Zuhörer und inspiriert durch die Geschichten seiner Kunden schreibt er Haikus. Sein Ruf als schreibender Supermarktbesitzer macht die Runde und eines Tages kommt ein betrunkener Mann in den Laden, der sich als „Okomi“ vorstellt und ihn auffordert, einen Songtext über die Arbeitsbedingungen in der Fabrik zu schreiben. Er bedroht Tom dabei mit einem Messer. Tom denkt sich einen Text aus und vergißt diesen Vorfall wieder. Er muss sich mit dem Auftauchen eines riesigen, modernen Supermarkt mit Klimaanlage direkt gegenüber seines Geschäfts auseinandersetzen. Die Brüder stecken dahinter und wollen Tom so aus Shellawick vertreiben. Seine Kunden kommen immer seltener (sie treffen sich jetzt lieber an der Tiefkühltruhe gegenüber), nach einem Jahr schließt Tom seinen Supermarkt. Er zieht sich zurück, droht völlig zu verwahrlosen, während er einen Roman über sich und Shellawick schreibt. Dann tritt Emily Dickinson in sein Leben, die er schon sehr lange aus der Ferne verehrt hat. Tom kriecht langsam aus seinem dunklen Loch. Als er eines Tages bei einer Werbeveranstaltung des Supermarkts Okomi trifft, wird Toms Leben schließlich komplett umgekrempelt.

Mir hat dieser Roman sehr gut gefallen. Erzählt wird eine ungewöhnliche Geschichte mit vielen „Charakterköpfen“. Die Mischung aus lustigen, poetischen und traurigen Momenten ist genau richtig.

Ein Roman mit einer Anomalie

Auf dem Flug von Paris nach New York wird im Juni 2021 eine Air France von einem furchtbaren Unwetter überrascht. Über 200 Passagiere glauben, dass ihr letztes Stündchen geschlagen hat. Doch so plötzlich, wie das Unwetter auftauchte, so plötzlich ist der Spuk auch schon wieder vorbei. Kapitän Markle bittet kurze Zeit später um Landeerlaubnis, doch die verwehrt man ihm und fragt ihn stattdessen nach seinen persönlich Daten und Details aus seinem Leben. Drei Düsenjets tauchen neben der Air France auf und Markle wird gezwungen, auf einem Militärflughafen zu landen. Dort hält man ihn, die Crew und die Passagiere mehrere Tage fest- ohne Erklärung.
In der Zwischenzeit tauchen bei verschiedenen Menschen das FBI auf. Man fordert diese Menschen auf, wegen eines hohen Sicherheitsrisikos für die USA unverzüglich mitzukommen und mitzuhelfen. Keine weiteren Erklärungen, keine Chance, dieser Aufforderung nicht nachzukommen. Diese Menschen , die im März 2021 in dem selben Flugzeug gesessen haben, um von Paris nach New York zu fliegen, wissen noch nicht, dass in der Air France Maschine auf dem Militärflughafen ihre Doppelgänger gesessen haben.
In der Zwischenzeit versammeln sich Nobelpreisträger, hochrangige Experten aus zig Fachgebieten und Theologen vieler Religionen im Pentagon und stellen sich die Frage: „Was ist da passiert“?
Und dann lernen sich die Menschen der beiden Flüge kennen. Was bedeutet dies für das Original und was für die Verdopplung? Was bedeutet das für die Menschheit?
Ich bin immer noch sprachlos über die Gedankengänge, die der Autor Hervé le Tellier in seinem Roman anbietet. Er erzählt die Geschichte mehrere Betroffenen und kann damit ein großes Spektrum der Auswirkungen dieser Anomalie darstellen. Der Clou dabei ist, dass er diese Überlegungen so spannend und z.T. auch wunderbar ironisch erzählt, dass man gar nicht aufhören kann, dieses Buch zu lesen.

Schwein gehabt!

Sy Montgomery beschreibt in diesem Buch das Zusammenleben mit einem Schwein.

Die Autorin und ihr Mann Howard leben auf einem Bauernhof in New Hampshire zusammen mit mehreren Tieren. Eines Tages können beide nicht nein sagen, als befreundete Farmer fragen, ob sie evtl. ein unterentwickeltes und krankes Ferkel aufpäppeln wollen. So kommt Christopher Hogwood ins Haus (benannt nach einem englischen Dirigenten) und er wird vierzehn Jahre das Leben von Sy und Howard auf ganz wunderbare Weise verändern.
„Chris“ ist ein kluges und sehr freundliches Schwein, das das Leben liebt und insbesondere seinen Futtertrog. So wird aus dem verhärmten Ferkelchen im Laufe der Jahre ein Siebenzentnerschwein, denn ob Nachbarn, Freunde, Menschen aus der nächsten Stadt oder auch Fremde, die von Chris gehört oder gelesen haben (er wird in den späteren Jahren zum Medienstar), alle bringen Chris die leckersten Küchenabfälle mit und freuen sich, mit Chris ein bisschen Zeit verbringen zu dürfen. Chris tut jedem gut, er strahlt Ruhe aus, kann zuhören und bedankt sich für Streicheleinheiten mit einem wohligen Grunzen. So wird der Freundeskreis von Sy und Howard immer größer. Das kinderlose Ehepaar bekommt mehrere temporäre „Adoptionskinder“, die Chris gar nicht mehr von der Seite weichen wollen und die beiden lernen die Gegenwart von Kindern sehr schätzen.
Natürlich gibt es auch Wolken am Schweinehimmel, wenn Chris mal wieder ausbüxt und von der Feuerwehr zurückgebracht werden muss oder er zu verwöhnt wird und schlimme Bauchschmerzen bekommt. Aber das sind kleine Ausrutscher im so erfüllten Leben zusammen von Chris.
Das Buch ist mit viel Herzenswärme geschrieben, es zu lesen tut einfach gut. (Das Charisma von Chris wirkt auch hier…). Natürlich ist Chris das Hauptthema, aber die Autorin, die für ihre Tierbücher mehrfach ausgezeichnet wurde, erzählt u.a. auch ein bisschen von ihren Exkursionen. So erforschte sie die rosa Delfine im Amazonasgebiet oder besuchte den Sundarbans National Park, in dem die letzten bengalischen Tiger leben. Das liest sich alles sehr interessant und ich werde mir noch weitere Bücher von Sy Montgomery gönnen.

Zwei Filme: Gemeinsam-einsam-allein

Noch ein verregnetes Wochenende? Kein Problem mit diesen beiden Filmen!

Die Regisseurin Agnès Varda und der Fotograf JR fahren gemeinsam mit einem ganz besonderen Reisemobil quer durch ganz Frankreich und fotografieren Menschen. Die Fotos bringen sie z.B. an Häusern, Firmenmauern, Wasserspendern oder alten Bunkern an und plötzlich nimmt man diese „unscheinbaren“ Menschen wahr und beginnt sich für sie und ihre persönlichen Geschichten zu interessieren. Das ist das Ziel der beiden Künstler. Wunderbar! Was aber ebenso schön ist: Das Verhältnis zwischen Agnès und JR. Agnès ist 89, JR Mitte 30, als sie 2017 mit dem Drehen des Dokumentarfilms beginnen. Die beiden gehen auf der Reise liebevoll miteinander um, trösten sich und inspirieren sich gegenseitig mit neuen Ideen.
Am Ende des Films sehe ich mein seliges Lächeln in der Fensterscheibe.

Film Nummer 2: In der Heimatstadt findet Fern, deren Mann vor einiger Zeit gestorben ist, keine Arbeit und so fährt sie mit ihrem Van quer durch den Westen der USA und ist immer auf Arbeitssuche. Sie ist sich für keine Arbeit zu schade, erlebt viel, lernt neue Leute kennen. Das ist die ganze Geschichte.
Mich hat dieser Film, genauer gesagt, die schauspielerische Leistung von Frances MacDormand stark beeindruckt. Obwohl sie immer auf der Suche nach Gelegenheitsjobs ist, wirkt Fern frei, ungebunden und damit auch von vielen Verpflichtungen entlastet. Wer hat sich diesen Zustand nicht schon einmal gewünscht? Dann aber sind da ihre Traurigkeit, ihr Alleinsein und ihre Einsamkeit und sie konnte ich fast körperlich spüren.

Sind Sie Ihrem Körper dankbar?

Der letzte Satz des Buches: „Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten.“ Paul Auster ist 64 Jahre alt, als er 2011 dieses Journal schreibt und er widmet das Buch seinem eigenen Körper. Was hat dieser in über sechzig Jahren aushalten müssen? Welche Freuden durfte er genießen? Was hat sein Körper für den Menschen Paul Auster alles getan, damit dieser so ein Leben führen durfte?
Die Aufzeichnungen beginnen mit großen und kleinen Blessuren, die das Kind und der Jugendliche sich beim Sport, bei Raufereien oder durch Unachtsamkeit zugezogen haben. Es folgen die Sturm und Drang Jahre. Auster verliebt sich schnell, besonders in Frauen, bei denen er ein inneres, individuelles Leuchten entdeckt. Allerdings sind diese Jahre nicht nur lustvoll, sein Liebesleben fordert auch gesundheitlichen Tribut.
Als junger und armer Schriftsteller zieht er insgesamt 21mal in den USA und in Paris um, mehrmals haust er in verwahrlosten Löchern. Eine frühe Ehe, sein erstes Kind hinterlassen Spuren, ebenso die baldige Scheidung. Erst als er seine zweite Frau kennenlernt, inzwischen ist er über dreißig, wird sein Leben etwas ruhiger. Sie kaufen gemeinsam ein Haus in Brooklyn, bekommen auch ein Kind, beide sind erfolgreiche Schriftsteller ohne große finanzielle Sorgen.
Auster schreibt nicht über das erste graue Haar und die zunehmende Anzahl von Falten bei einem Mann „im besten Alter“. Ein neues Kapitel beginnt, als seine Eltern und Schwiegereltern krank werden und sterben. Gedanken über den Tod nehmen immer mehr Raum ein, er hat eine schlimme Panikattacke und muss danach Medikamente einnehmen, um nicht weiter darunter zu leiden. Er registriert bei sich geistige Veränderungen, die u.a. einen schweren Autounfall zur Folge haben, bei dem nur durch viel Glück nichts Schlimmes passiert. Körperlich machen sich Unpässlichkeiten bemerkbar. Auster gesteht diese seinem Körper zu, denn unzählige Aufgaben verrichtete er jahrzehntelang ohne großes Murren. Eine Zeit beginnt, in der Auster mehr denn je für ruhige, liebevolle und gesunde Augenblicke dankbar sein wird- der Winter.
Besuchte Paul Auster früher auf der Frankfurter Buchmesse den Rowohlt Stand, war das Chaos vorprogrammiert dank vieler junger Buchhändlerinnen, die ihn umschwärmten, ich mittendrin. So las ich dieses Buch anfangs mit viel Interesse. Ein weltberühmter Schriftsteller stößt sich selbst vom Sockel. Er ist „nur“ ein Mensch mit Schwächen, Fehlern und Verletzungen, der weiß, dass er jetzt alt ist. Seine Schilderungen sind dabei nicht nur eine Aneinanderreihung von Körpergeschichten, sondern sie erzählen auch lebendig von einem Leben in den USA nach dem 2.Weltkrieg.
Aus meinem Interesse wurde beim Lesen schließlich Faszination, denn seine Körpererinnerungen ließen mich auch über meinen Körper nachdenken. Was musste er mit mir alles aushalten? Meine eigenen alten Geschichten waren plötzlich wieder präsent. Ich werde sie aufschreiben, damit ich sie nicht endgültig verliere und auch als Mahnung an mich, öfter meinem Körper ein Dankeschön zu sagen.

P.S. Diesen Lesetipp bekam ich übrigens beim Lesen dieses Buches:

Die Protagonistin verschlingt Bücher und da fallen halt auch Lesetipps ab. Buchbesprechung siehe unten „Ein Tattoo zum 75. Geburtstag“.

P.S.2: Am Donnerstag gibt es einen Füße-Beine-Hüfte Beitrag.