Ein Buch mit Worttropfen

Stellen Sie sich vor: Sie sitzen oder liegen irgendwo, lesen gemütlich und es ist still. Idylle. Doch dann hören Sie ein Geräusch. Sie wollen es ignorieren, schließlich genießen Sie gerade Ihre Lektüre, doch die zum Lesen nötige Konzentration lässt nach, dieses Geräusch piesackt Sie. Sie sehen nach, es ist der Wasserhahn, der tropft. Die Irritation ist schnell behoben, doch die Lust aufs Weiterlesen ist vergangen.
Dieses Gefühl hatte ich auch bei dem Buch von Esther Kinsky.

Der Unterschied: Es war kein Wassertropfen, der mich gestört und immer mehr genervt hat, es waren mehrere Worttropfen im Buch.
Kinskys Buch „Am Fluss“ war 2014 für mich ein Ereignis. Ihre Fähigkeit, noch so Unbedeutendes in einer wunderbaren Sprache zu charakterisieren, beeindruckte mich sehr. Jetzt wollte ich mir „Hain“ gönnen, in dem sie über ihre Aufenthalte in Italien schreibt.
Kinskys Lebenspartner(?) M. ist gestorben und sie fährt daraufhin im Winter in eine kleine Stadt bei Rom, wo sie ein Haus auf einem Hügel für mehrere Monate mietet. Durch das Küchenfenster hat sie einen Blick auf den Friedhof, der auf dem gegenüberliegenden Hügel mit seinen hohen Mauern einer Trutzburg ähnelt. Dank der Lage ihrer Unterkunft breitet sich auch ein Teil der Stadt wie eine Miniaturlandschaft vor ihr aus, die sie ebenfalls ausgiebig beobachtet. Eine andere Beschäftigung ist das Erkunden der Gegend zu Fuß. So erzählt sie in kurzen Kapiteln von der Landschaft, den Bewohnern, besonders gerne von Tieren und dem italienischen Winterhimmel mit seinen unwiderstehlichen Blautönen.
Im zweiten Teil des Buches erinnert sich die Autorin an mehrere Urlaube in Italien in den 70er Jahren. Der Vater liebte das Land, die Sprache und die Geschichte. Frau und zwei Töchter mussten immer mit, viele Kirchen, Museen und Ausgrabungsstellen lernte Kinsky auf diese Weise kennen.
Gibt es Eindrücke, die sie aus ihrer Kindheit als erwachsene Frau noch einmal abrufen kann? Welche Gefühle löst Altbekanntes bei ihr aus? Davon handelt das letzte Drittel des Buches. Kinsky fährt nach Ferrara, wandert in der Poebende, sieht sich die Mosaiken von Ravenna an.

Vor fast drei Jahren schrieb ich in meinem Blog über einen Winterurlaub in Rimini. (siehe unten). An diesen musste ich beim Lesen sehr oft denken, denn der „Geländeroman“, wie das Buch auch genannt wird, bot mir ein Fundus an Erinnerungen. In den ersten beiden Kapiteln schwelgte ich geradezu und erfreute mich dabei an der überraschenden, aber immer stimmigen Sprache. Diese Freude verging mir dann allerdings im dritten Kapitel. Unsägliche Wortwiederholungen wurden für mich zu ärgerlichen Worttropfen. Ein paar Beispiele: Platz 1: Gestrüpp und struppig, Platz 2: ausgefranst, Platz 3: Obdach, Platz 4: gestutzt, Platz 5: bitterkalt

Teil eins und zwei in „Hain“ sind großartig, bei Teil 3 bin ich ratlos. Wie konnten Autorin und Lektorat plötzlich so schludern?

Ein lebenslanges Abenteuer

Jhumpa Lahiri verliebt sich 1994 bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien in die italienische Sprache. Damit beginnt für sie, wie sie selbst schreibt, ein bis heute andauerndes Abenteuer.

Die Autorin hat indische Wurzeln, ist aber in den USA aufgewachsen. Ihre Muttersprache ist Englisch und doch hat sie das Gefühl, dass die italiensche Sprache in ihr „schlummert“ und nur geweckt werden will. Sie beginnt damit, sich Lehrbücher zu kaufen, doch beim nächsten Aufenthalt in Italien, sechs Jahre später, merkt sie, dass das Wissen aus Büchern sie nicht sehr weit bringt, ihr fehlt die Sprachpraxis. Wieder zurück in der Heimat, engagiert sie in den nächsten Jahren drei Lehrerinnen, die sie wöchentlich trifft. Ihr Italienisch macht enorme Fortschritte, doch das reicht nicht, um Lahiris Streben nach einem perfekten Italienisch zu stillen. Inzwischen ist sie verheiratet, hat zwei Kinder und ist eine erfolgreiche Schriftstellerin. Sie zieht mit ihrer Familie mach Rom. Anfänglich noch immer mit einem Wörterbuch bewaffnet, ist sie nach ein paar Monaten endgültig in die Sprache eingetaucht und schreibt ihre erste Kurzgeschichte auf Italienisch. Diese Geschichte ist in dem Buch abgedruckt und besticht durch einen fokussierteren Schreibstil. Lahiri liest nur noch italienische Zeitungen und Bücher. Noch immer entdeckt sie täglich neue Wörter und Redewendung, reibt sich mit nicht nachlassendem Vergnügen an Wortverwechslungen und Sprachabsurditäten. Englisch wird ihr dabei zunehmend fremd, sie mag eine Zeitlang diese Sprache nicht mehr, was sie als Schriftstellerin immer mehr verunsichert und schon bald fühlt sie sich völlig entwurzelt.
Nach drei Jahren muss sie 2014 Rom verlassen und kehrt in die USA zurück. Wird ihre grande amore überleben oder verblassen?
Dieses Buch erschien 2015 zuerst in Italienisch, ein Jahr später in einer englisch-italienischen Fassung. 2018 kam Lahiris neues Buch „Wo ich mich finde“ heraus, auch dieses hat sie auf Italienisch geschrieben.

Diese Besprechung ordne ich auch in der Kategorie „Französischstunde“ ein, denn das Buch inspirierte mich, meine Versuche, mein Französisch aufzupolieren, auch als ein dauerndes Abenteuer anzusehen, bei dem man auch viel Spaß haben kann, wenn man sich mit der Sprache beschäftigt. Meine neusten französischen Lieblingsredewendungen sind z. Zt.:

Appeler un chat un chat- das Kind beim Namen nennen

étre fleur bleu- naiv sein

voir la vie en rose- optimistisch sein

Lahiris Schilderungen, wie sich das Verhältnis zu ihrer Muttersprache ändert und was das für sie als Schriftstellerin bedeutet, fand ich sehr interessant. Was ich mir noch in dem Buch gewünscht hätte: Ein Kapitel, in dem sie darüber schreibt, wie sie die anderen Familienmitglieder, die kein Italienisch sprachen, überzeugte, nach Rom zu ziehen, damit sie selbst ihre Lust am Italienischen noch mehr ausleben konnte.