Klassische Musik- pfui und hui

In den letzten Wochen habe ich zwei Bücher gelesen, die sich mit der Welt der klassischen Musik beschäftigen. Das erste war:

Der Autor, Journalist des Spiegels und davor jahrelang angestellt bei zwei großen Plattenlabels, rechnet mit dem „Klassikzirkus“ generell und speziell mit einigen der größten Stars in dieser Branche ab.
Sein Fazit: Money, Money, Money ist die Devise, der so gerne zitierte kulturelle Bildungsauftrag ist das Feigenblatt. Die Produktionskosten für Opern schrauben sich in die Höhe und es wird viel Geld verschwendet. Denkt man an die Subventionen, die diese Kultursparte für sich immer wieder beansprucht, darf man sich gerne aufregen. Was die Berühmtheiten der klassischen Musikszene angeht, nimmt sich Umbach die kostspieligen Eigenarten des Herbert von Karajans vor, zwei der drei Tenöre des Jahrhunderts, Luciano Pavarotti und José Carreras, bekommen ihr Fett weg, andere Künstler sind z.B. Anne-Sophie Mutter, Justus Frantz oder Daniel Barenboim. Der Autor verfolgt deren Karriereverlauf. Am Anfang ist er hingerissen von der großen Begabung und weiß das Können der Musiker sehr zu schätzen. Doch mit den Jahren verflüchtigt sich nach seiner Ansicht die Genialität, da das große Geld für die Künstler zur treibenden Kraft bei Auftritten wird.
Als ich das Buch beendet hatte, war mir meine Freude an klassischen Konzerten in großen Häusern vergangen. Wie blauäugig war ich gewesen! Nach meinen Internetrecherchen hat es zu diesem Buch keine einstweiligen Verfügungen gegeben, also ist der Wahrheitsgehalt wohl hoch. Das Buch ist 1990, also vor über 30 Jahren erschienen. Von welchen Geldsummen reden wir dann heute im „Klassikzirkus“?

Die Lektüre eines zweiten Buches relativierte glücklicherweise meine Schwarzweißsicht. Dafür meinen Dank an Kent Nagano:

Als ich den Titel seines neuen Buches zum ersten Mal las, war mir etwas unwohl- ein Dirigent schreibt ein Lebenshilfebuch? Aber schnell merkte ich, dass ich mich getäuscht hatte. Kent Nagano ist ein Menschenfreund. Er ist neugierig auf das, was andere Menschen zu sagen haben und möchte von ihnen lernen. In seiner über fünfzigjährigen Karriere traf er mit vielen Berühmtheiten und Musikspezialisten zusammen und zehn von ihnen stellt er in seinem Buch vor. Er beschreibt kurz ihre Lebensläufe und geht dann darauf ein, was er von diesen Menschen für sein eigenes Leben gelernt hat. Unter den zehn sind bekannte Namen wie Leonard Bernstein, Frank Zappa, Alfred Brendel oder Björk dabei. Das Zappakapitel faszinierte mich sehr, ich wusste nicht, dass Frank Zappa viel mehr der klassischen Musik zugewandt war und die Rockmusik quasi nur zum Brötchenverdienen spielte.
Ebenso begeisterte mich das Kapitel über Sarah Caldwell, die 1957 ihr eigenes Opernhaus in Boston eröffnete und mit ihren Ideen und Können die damalige Opernwelt aufmischte.
Der berühmte Komponist Olivier Messiaen hatte eine Ehefrau, die seine sehr komplexen Kompositionen als erste auf dem Klavier spielte. Ihr gelang dies mühelos, während andere Musiker an diesen Stücken verzweifelten. Yvonne Loriod war ihr Name. Eine begnadete Pianistin, die ihr Leben ganz in den Dienst ihres Mannes stellte und darüber als große Künstlerin vergessen wurde.
Kaum jemand wird Richard Trimborn kennen. Ihm setzte Nagano mit einem Kapitel ein Denkmal. Trimborn nannte sich zeitlebens „Korrepititor“ und bereitete Dirigenten und Sänger mit sehr großer Sorgfalt auf das anstehende Konzert oder Oper vor. Sein unglaubliches Wissen war eine Inspirationsquelle für viele und doch hat er bis zu seinem Tod immer weiter geforscht, um noch tiefer in die Bedeutung eines Werks einzudringen.
Diese zehn Lebensläufe und Naganos Ausführungen zu seinem stetigen Lernen haben mich wieder versöhnt. Sie waren, bzw. sind „die Guten“ im Kulturbetrieb der klassischen Musik mit Idealen, die sie nicht verraten.
Ein tolles Buch!

„Sie spielt schneller, als ich hören kann“

Vorgestern besuchten wir in der Essener Philharmonie ein Konzert der Jazzpianistin Hiromi. Die Überschrift ist ein Zitat meines Mannes am Ende des Konzerts. Ein weiteres Zitat meines Sitznachbarns: „Ich fasse mein Klavier nie wieder an!“ Oh ja, nach dem Konzert überkam auch mich eine Welle der Frustration, ich fühlte mich wie ein klavierspielendes Würmchen. Aber das hielt nur bis zum nächsten Morgen an, dann klappte ich den Klavierdeckel wieder hoch.

Das Konzert, das wir übrigens 2020 besuchen wollten (siehe unten, da mache ich Ihnen in meinem Artikel Appetit auf das Konzert) und das dann viermal verschoben wurde, war einzigartig. Chilli Gonzales und Igor Levit, meine beiden Lieblingspianisten, haben Konkurrenz bekommen. Ihr Einfallsreichtum, was man wie mit den Tasten alles machen kann, scheint unendlich. In ihren Kompositionen zeigt sie ihre eigene Gefühlswelt ungeschminkt. Manchmal scheint ein Hauch von Wahnsinn in ihrem Spiel zu liegen, doch dann zeigt sich der Schalk in ihrem Nacken und es wird klar, dass alles ein großer Spaß für sie ist.

Hiromi spielt „Isolation“

Bild 165 von 365

Spielte Hiromi vor Corona zumeist nur solo, hat sie nun ein vierköpfiges Streichquartett an ihrer Seite. Dadurch trat der „Jazztouch“ ihrer Musik in der zweiten Hälfte des Konzerts etwas in den Hintergrund und ihr Stilrepertoire hat sich dadurch positiv erweitert.

Dieses Video wurde letzte Woche in Wien aufgenommen. Die Qualität ist nicht so gut, aber Sie lernen die aktuelle Hiromi kennen.

Arno- zu spät kennengelernt

Im Deutschlandfunk Kultur widmete man sich vor einigen Tagen dem belgischen Chansonnier Arno, der im April verstarb. Die Redaktion des Radiosenders nannte ihn den „anderen König der Belgier“. Auch bezeichnete man ihn als den belgischen Tom Waits. Er war wohl eine Art Nationalheiligtum der Belgier und ich bedaure, seine Lieder jetzt zum ersten Mal gehört zu haben. Zu spät, um ihn einmal in einem Konzert zu erleben.

Hier eine Liedkostprobe:

Und hier geht es zu der Sendung vom Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunkkultur.de/arno-100.html

Gedanken zu Nick Cave

Den vor kurzem erschienenen Konzertfilm „This Much I Know To Be True“ des Musikers Nick Cave sahen wir uns vorgestern im Kino an. In einem verlassenen Gebäude werden Stücke von den neuen CDs „Ghosteen“ mit seiner Gruppe Bad Seeds und „Carnage“ mit seinem Musikerfreund Warren Ellis gespielt. Meine Gedanken: Die Musik ist teilweise sehr ätherisch und bombastisch, nicht unbedingt typisch für Nick Cave. Der Einfluss der Experimentierfreudigkeit von Warren Ellis ist nicht zu überhören. Gefiel mir nicht uneingeschränkt.
Aber Nick Cave zeigt am Anfang des Films auch die ersten Ergebnisse seiner neuen Leidenschaft. Er töpfert und der Sänger präsentierte mehrere Keramiken, die sich mit dem Leben und Sterben des Teufels befassen. Seine Gedanken zum Teufel sind bemerkenswert. Daneben gibt Cave mehrere kurze Interviews. Der Film entstand Frühjahr 2021 und er meint, ein glücklicheres Leben zu führen, verglichen mit der Zeit als junger und mittelalter Mann. (Cave ist Jahrgang 1957). Sein Leben erscheint ihm sinnvoller und auf seiner Webseite „The Red Hand Files“, beantwortet er nunmehr seit geraumer Zeit sehr persönlich die Fragen von z.T. sehr verzweifelten Menschen.
Als ich den Film sah, freute ich mich. Da war ein Mensch, der für mich immer mit Wut, Dunkelheit, Verzweiflung und dem stetigem Ringen mit Gott umgeben war und der jetzt wohl einen Weg gefunden hatte, das Leben etwas leichter anzunehmen.
Gestern hörte ich mir die beiden CDs im Internet an. Die Musik hatte dabei eine ganz andere Wirkung auf mich als im Film. Das Bombastische war verschwunden, die Stimme Nick Caves stand wieder im Vordergrund, seine neue Lebensfreude schimmert immer wieder durch. Gut so!
Und dann lese ich gestern Nachmittag, dass am Montag sein ältester Sohn gestorben ist, der zweite Sohn nach 2015, als ein Sohn von einer Klippe gestürzt und tödlich verunglückt ist.

Ein Lied von der neuen CD „Carnage“: