Besser als eine Droge

Bei diesem Buch von Hanns-Josef Ortheil

würde ich Ihnen am liebsten über jedes einzelne Kapitel berichten!
Eine Möglichkeit, sein Leben zu entschleunigen, ist das Innehalten und dem Aufschreiben von Beobachtungen oder Gedanken in einem Notizbuch.


Das hört sich erst einmal ziemlich einfach an. Sie setzen sich beispielsweise in ein Café oder auf eine Bank und notieren, was Sie sehen. Aber gucken Sie wirklich genau hin? Das ist eine Kunst und dieses Buch zeigt 19 mögliche Herangehensweisen, wie man zu einem Fundus an interessanten Notizen kommt.
Ortheil stellt dazu Aufzeichnungen, Beobachtungshefte oder Notizbücher von berühmten, aber auch von unbekannteren Autoren vor. Ob Elias Cannetti, Peter Handke oder Georg Christoph Lichtenberg, jeder hat eine andere Herangehensweise, die Welt zu betrachten. Meine drei Favoriten:

Notieren als Fotografieren:
Peter Wehrli stieg vor ca. 40 Jahren in Zürich in den Zug, um nach Beirut zu fahren. Auf dem Weg realisierte er, dass er seinen Fotoapparat vergessen hatte. Er begann, „literarische Fotos“ zu formulieren und beschrieb in äußerst knappen Worten ein Motiv, das er sonst fotografiert hätte. (Sein Buch „Katalog von Allem stelle ich Ihnen später noch gesondert vor).

Notieren als Drehbuch:
Der japanische Schriftsteller Akutagawa Ryūnosuke sah Menschen bei ihren Alltagsverrichungen zu und hielt seine Beobachtungen in Form von Drehbuchanweisungen fest.

Notieren am frühen Morgen:
Paul Valéry und Elke Erb standen jeden Morgen früh auf und fingen direkt mit dem Schreiben an. Elke Erb schrieb, was ihr spontan in den Sinn kam. Dabei kamen ganz erstaunliche Gedanken zu Tage und die Schriftstellerin erfuhr viel über sich. Hanns-Josef Ortheil schreibt zu dieser Methode:

Welche Notizen Sie auch festhalten, Sie können Sie als schöne Erinnerungen an eine entspannte Zeit verwahren, sie als ihre persönliche Schatzkiste von besonderen Beobachtungen ansehen oder Sie benutzen Ihr Notizbuch tatsächlich, um eine Geschichte oder sogar einen Roman zu schreiben.
Notizen schreiben interessiert sie nicht? Lesen Sie das Buch trotzdem, denn mit dem Erlernen des genauen Hinsehens und Entdeckens wird Ihr Leben reicher.

Eine ungewöhnliche Schreibwerkstatt

 

Dies ist ein ganz außergewöhnlicher autobiografischer Roman.

Ortheil

Hanns-Josef Ortheil erzählt von seiner Kindheit und Jugend. Bis zu seinem siebten Lebensjahr hat er kaum gesprochen, kennt nur wenige Wörter für die Welt, die ihn umgibt. Er spielt leidenschaftlich Klavier, kann sich damit ausdrücken und das akzeptieren die Eltern. Doch als er in die Schule kommt und die Schwierigkeiten anfangen, beschließen zuerst der Vater und später auch die Mutter, ihm Wörter, das Sprechen und schließlich auch das Schreiben auf unkonventionelle Weise bei zu bringen. Es stellt sich heraus, dass Ortheil sehr gut beobachten kann und dies, verbunden mit seinem Schreibtalent schließlich dazu führt, dass für den Jungen das Schreiben zur Passion wird. Er ist ein guter Schüler, macht sein Abitur und entscheidet sich dann, nach Rom zu gehen, um dort Musik zu studieren. Ende des Romans.

Warum nenne ich das Buch außergewöhnlich?

Es gewährt uns einen Blick in eine bürgerliche Familie zwischen den fünziger und siebziger Jahren. Sind die ersten Kapitel im Buch fast ausschließlich den Schreibübungen gewidmet, treten mit der wachsenen Selbständigkeit des jungen Ortheils familiäre Begebenheiten in den Vordergrund. Dabei spielen das liebevolle, aber so unterschiedliche Verhalten der beiden Elternteile eine große Rolle. Ja und dann ist da noch die Tatsache, dass dieses Buch für jeden, der gerne selber schreibt oder schreiben möchte, eine methodische Schreibwerkstatt darstellt, die viele Anregungen gibt, wie man seinen Stil verbessert oder über was man überhaupt schreiben kann. Ortheil hat diesen Roman geschrieben und dabei seinen riesigen Fundus an frühen Übungen erneut gesichtet und mit eingearbeitet.

Ortheil hat noch weitere Bücher über seine Kindheit geschrieben, bzw. sind zwei Erzählungen, die er während seiner Jugend geschrieben hat, ebenfalls veröffentlicht worden. Ich habe keins dieser Bücher vorab gelesen. Es wird manchmal empfohlen, ich fand es so besser, da ich völlig unvoreingenommen gelesen habe.