Ein Garderobenroman

Herr Harald, ein Mann mittleren Alters, Junggeselle, arbeitet an der Garderobe in der Oper, vertretungsweise auch in der Philharmonie oder im Theater. Sein Leben verläuft geordnet ohne Überraschungen, sein mitunter rasantes Gefühlsleben hat er im Griff. Er beobachtet seine Umwelt genau, sein Notizbuch wird stetig mit Anmerkungen über Opernbesucher, Waschsalonbenutzer und das Wetter gefüllt und er wählt das „Wort des Monats“ aus. Eine Coca Cola gönnt er sich manchmal, ebenso kleine Fantasiereisen, die er mit der jungen Frau unternimmt, die bei Klavierkonzerten als Notenumblätterin agiert. Ihren Namen kennt er nicht, aber ihr fohlenbraunes Haar hat es ihm angetan.
Sein korrektes Leben bekommt einen Knacks, als nach einer Vorstellung ein Mantel nicht abgeholt wurde und Herr Harald in dem Mantel eine Waffe findet. In Panik nimmt er die Waffe mit nach Hause und lässt den Mantel verschwinden. Die Waffe ist eine „Rhön“, eine Schreckschusspistole, die er im Backofen in einem Römertopf versteckt. Er gewöhnt sich an ihre Gesellschaft und in ihm reift eine Idee. Sein Leben hat sich wieder etwas beruhigt, als er in einer Zeitung das Foto einer männlichen Leiche sieht, nach deren Identität die Polizei sucht. War das der Mantelmann? Ein paar Abende später fragt in der Oper ein Mann nach dem Mantel. Herr Harald schafft es, dem Mann sein Unwissen über den Verbleib des Mantels glaubhaft zu vermitteln, doch was bedeutet das alles? Dann taucht eines Tages eine Katze vor seiner Wohnung auf und besteht darauf, hineingelassen zu werden. Herr Harald bekommt eine neue Mitbewohnerin und sein Leben wird noch aufregender.

Mein Verhältnis zu Herrn Harald wechselte bei der Lektüre mehrmals. Gerne hätte ich ihn öfter geschüttelt, dass er doch mal von seinen Ordnungsprinzipien abweichen möge, dann wieder war er ein liebenswerter Mensch, der kleine Schönheiten im Alltag entdeckt und beobachtet. Die kreative Sprache der z.T. mit feiner Ironie geschriebenen Geschichte und Herr Haralds Gedanken zu einzelnen Wörtern sind aber die Hauptgründe dafür, dass ich den Roman gerne gelesen habe

Der Sezierer des „grauen“ Alltags

Und hier ein weiterer Autor, den ich dieses Jahr neu entdeckt habe:

Georges Perec, ein französischer Autor, legt in seinen Büchern den Alltag unter das Mikroskop und erfasst minutiös jede Art von Handlung, die zu einem Vorgang gehört, hält jede noch so unbedeutende Beobachtung fest und erkundet Möglichkeiten des Ordnens. Er ist nicht auf Sensationen aus wie beispielsweise Zeitungen. Perec ist von Zeitungen gelangweilt, denn sie berichten nicht über Dinge, die sein Leben betreffen, nicht über den gewöhnlichen Alltag oder über Selbstverständliches.

Im rechten Buch listet er die Beobachtungen auf, die er 1974 an drei Tagen gemacht hat. Täglich hat er mehrere Stunden auf dem Pariser Place Saint-Sulpice gesessen und notiert: Menschen, Fahrzeuge, Tiere, Geräusche, Düfte, wechselnde Schriftzüge, Beleuchtungen, Farben. An den drei Tagen gibt es Regelmäßigkeiten, wie beispielsweise immer wieder vorbeifahrende Busse oder Menschen, die zu ihrer Arbeit gehen, aber auch viele „Mikro-Ereignisse“, die so unterschiedlich sind, dass selbst der langweiligste Alltag interessant sein kann, wenn man nur genau hinschaut.

Im linken Buch erhebt er mit dem Thema „Denken/Ordnen“ den Alltag ebenfalls in eine andere Sphäre. Als Leserin stachen bei mir zuerst die Kapitel über die Kunst des Bücherordnens, über das Lesen und die Betrachtungen über Brillen heraus, doch seine Anmerkungen über die Gegenstände, die auf seinem Schreibtisch liegen oder seine drei Erinnerungen an früher besuchte Zimmer gefielen mir auch sehr gut.

Wer mehr über Georges Perec wissen möchte:

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Georges_Perec