Ich wünsche mir einen Dok-go

Frau Yeom ist pensionierte Lehrerin. Als ihr Mann stirbt, kauft sie sich in Seoul einen kleinen 24-Stunden-Laden, um eine Aufgabe zu haben und unter Menschen zu kommen. Ihr Sohn ist ihr dabei keine Hilfe, denn er träumt von einem geschäftlichen Coup, der ihn reich macht und hat für seine Mutter kein Verständnis.
Im Laden werden Dinge des täglichen Bedarfs angeboten, sowie auch Fertiggerichte, die man sich als Kunde in einer Mikrowelle direkt warm machen und essen kann. Das Geschäft läuft nicht so gut, da ganz in der Nähe ein zweiter größerer 24 Stunden-Laden eröffnet hat. Das ändert sich, als Frau Yeom Dok-go einstellt. Er ist ein Obdachloser, der sich die abgelaufenen Fertiggerichte aus dem Mülleimer fischt. Dok-go ist groß wie ein tapsiger Bär, stottert, erinnert sich an nichts, da der Alkohol seine Sinne stets vernebelt, ist aber stets sehr höflich. Frau Yeom stellt ihn unter der Bedingung ein, dass er nicht mehr trinkt und Dok-go übernimmt die Nachtschicht. Der Verzicht auf den Alkohol macht sich bei Dok-go bald bemerkbar, denn er stottert nicht mehr und sehr langsam kommen seine Erinnerungen zurück. Dok-go hat ein schwer zu definierendes Charisma und wird zum Schwarm der älteren Kundinnen, weist unverschämte Kunden in die Schranken und kann gut zuhören und sich sehr in andere Menschen hineinversetzen. So hilft er mit seiner Herzenswärme und Klugheit beispielsweise einer erfolglosen Schauspielerin, einem Familienvater, den die Arbeit auffrisst oder seiner Kollegin Oh, die Angst um ihren Sohn hat, denn er hat sich in seinem Zimmer verschanzt und spricht nicht mehr mit ihr.
Frau Yeom weiß, welches Glück sie hat, Dok-go als Mitarbeiter zu haben, doch kommt auch ein Tag des Abschieds. Dok-go muss sich seinen Erinnerungen stellen, um seine eigenen Dämonen zu besiegen.

Ein „Wie schön“- Seufzerbuch! Das Buch tut einfach nur gut und man wünscht sich, Dok-go würde in der Nähe wohnen und wäre ein Freund.

Kein Tag ohne Musik

Gestern stellte ich Ihnen das linke Buch vor, heute folgt das rechte. Schuld daran in das linke.

In dem Buch über Martha Argerich wird u.a. erzählt, dass sie kurz vor dem ersten Konzert zusammen mit Leonard Bernstein als Dirigent spontan beschloss, nicht aufzutreten. Eine Ersatzbesetzung fürs Klavier war nicht so schnell zu bekommen, also entschloss sich „Lenny“, selbst das Klavier zu bespielen und mit den Augen sein Orchester zu dirigieren. Das beeindruckte mich so sehr, dass ich beschloss, mich einmal wieder mit der Person Bernstein zu befassen. (In der Vergangenheit habe ich mir schon einige seiner Veranstaltungen, in denen er Musik Kindern erklärt und zwei kurze Interviews auf YouTube angesehen und bin seitdem „Fan“).

Ich wählte dieses Buch von 1990 aus, weil es das letzte ausführliche Interview vor seinem Tod wiedergibt. Jonathan Cott und Bernstein verstehen sich auf Anhieb gut und das Interview dauert über 6 Stunden bis nachts um drei.

Die Themen sind sehr vielfältig. Das ewige Lernen ist z.B. eine Herzensangelegenheit von Bernstein und damit u.a. verbunden das Heranführen von Kindern an klassische Musik. Bei der U-Musik ist er sehr kritisch, denn die meisten Lieder sind auf schnelle Befriedigung des Musikbedarfs aus und lassen bei Langzeitkonsum den Zuhörer verblöden.

Neben der Musik kommen die Religion und die Politik noch zur Sprache, dazwischen erzählt Bernstein immer wieder kleine Anekdoten von Begebenheiten mit anderen Prominenten oder bei seinen eigenen Musikprojekten.

Leonard Bernstein ist voller Unrast. Er will jeden Tag auskosten, d.h. jeden Tag in irgendeiner Form sich mit Musik beschäftigen und Neues lernen. Er ist sehr klug und hat ein phänomenales Gedächtnis, beim Lesen des Interviews nahm meine Bewunderung für diesem Mann noch einmal zu.

Zum Schluss komme ich noch einmal auf das Dirigieren mit den Augen zurück: Hier ist der Beweis:

Möchten Sie die Zeit anhalten?

 

Tom Hazard, Anfang 40, ist Geschichtslehrer an einer Londoner Schule. Er hat permanent schlimme Kopfschmerzen, denn seine Erinnerungen an Vergangenes belasten ihn sehr. Es sind viele Erinnerungen, denn Tom ist in Wahrheit über 400 Jahre alt. Seine Mutter wurde als Hexe ertränkt, er spielte Musik in Shalespeares Theater, fuhr mit James Cook zur See oder saß mit F. Scott Fitzgerald zusammen an der Bar. Immer musste er fliehen, wenn die Mitmenschen mißtrauisch wurden, weil er nicht sichtbar alterte. Einmal war er mit Rose verheiratet und hatte eine Tochter Mary, doch auch die beiden musste er verlassen, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Seine Frau ist gestorben, doch seine Tochter lebt noch, denn sie ist wie er und altert nur sehr langsam. Doch wo ist Mary? Sie wiederzufinden ist für Tom der einzige Grund, weiter am Leben zu bleiben. Er hat alles gesehen und es kann ihn nichts mehr überraschen, er hat keine Illusionen mehr über Menschen und ihr Handeln.

Bei der Suche nach Mary helfen könnte der Chef der Albatrosse, jener Gruppierung, die Menschen wie Tom hilft, sich immer wieder eine neue Identität zu erschaffen. Heute gibt es zwar keine Hexenverfolgung mehr, doch für skrupellose Firmen, die Mittel gegen den Alterungsrozess suchen, wären „Albas“ ideale Forschungsobjekte. Tom hat die Dienste der Albatrosse schon öfter in Anspruch genommen, zahlte dafür allerdings bisher auch eine hohen Preis: Die Bedingungen sind, dass er für eine neue Identität erstens als Gegenleistung einen Auftrag des „Alba“-Chefs erfüllen muss und hier geht es u.a. um Mordaufträge und zweitens es absolut verboten ist, sich jemals zu verlieben. Tom war seit Jahrhunderten nicht mehr verliebt, doch jetzt hat er an der Schule eine neue Kollegin, Camille, und bei ihr ist alles anders…

Dieses Buch habe ich in der Hörversion (9 1/2 Stunden) genossen, vorgetragen von Christoph Maria Herbst. (Wie immer souverän). Die Geschichte ist sehr unterhaltsam und spannend, das Ende könnte nach meinem Geschmack etwas weniger pathetisch sein. Aber ich werde mir noch das Buch kaufen und es später auch lesen, denn es stehen einige sehr kluge Sätze in ihm, die einen das Leben abgeklärter betrachten lassen.

Es gibt Momente…

Heute beginne ich mal mit einem Spruch von Goethe:

„Ich habe gefunden, daß alle wirklich klugen Menschen darauf kommen und bestehen, daß der Moment alles ist.“

Hier vier kleine Beispiele:

Man freut sich, wenn man einen Glückscent auf der Straße findet

Wenn eine Zimmerpflanze, die jahrelang „nur grün“ war, plötzlich blüht

Zimmerpflanze

 

Es tut gut, wenn man abends nach der Arbeit die neuen Schuhe ausziehen darf…

Schuhecollage

 

Man nach Jahren plötzlich bei einem Waldspaziergang wieder einen Kuckuck rufen hört.

Von meiner Leserin Mila Rohde:

Ein besonderer Moment ist es, wenn im Winter zum ersten Mal die Sonne das Gesicht wieder wärmt
Die Nase juckt und man endlich nießen kann
Der Hefeteig für einen Kuchen schön aufgeht

Von meiner Leserin Chantal Görkens:

Wenn ein Schmetterling auf meiner Hand landet
Ich nach Jahren mal wieder ein Lied höre, das in einen früheren Urlaub sehr angesagt war
Kaffeeduft am Morgen
Mich jemand an der Kasse im Supermarkt vorlässt, weil ich nur ein Teil bezahlen muss