Tag der Archive

Am Wochenende hatte man die Gelegenheit, kostenlos an Führungen in verschiedenen Duisburger Archiven teilzunehmen. Mein Mann schlug spontan das Landesarchiv NRW im Duisburger Innenhafen vor. Diesen Vorschlag musste ich erst einmal ein bisschen verdauen. Von oben gesehen gebe ich dem Gebäude auf einer Skala von 1-10 eine 8.

Keine Frage: Die Wellen sind ein Hingucker und der Speicherturm bleibt dabei relativ bescheiden.

Aber jedes Mal, wenn ich auf der Autobahn am fensterlosen Speicherturm vorbeifahre, merke ich, wie mich ein ungutes Gefühl beschleicht, das als eine Mischung aus Ärger und Beklemmung daherkommt.

Wie kann man ein solches Ungetüm freiwillig in die Gegend setzen? War der Architekt Freund von kafkaesken Szenen? Auf diversen anderen Fotos setzte ich mich schon vor Jahren mit diesem Gebäude auseinander.

Und das sollte ich freiwillig besuchen? Aber ich ging mit und wir erlebten dank der Führung von Frau Dr. Pilger 1 1/2 sehr interessante Stunden. Deren Inhalt gebe ich hier nicht wieder, nur ein paar Appetitshäppchen, damit Sie sich demnächst ( z.B. beim Tag des offenen Denkmals) auf den Weg machen. Einige Informationen bekommt man auch auf der Homepage www.lav.nrw.de, deren Qualität allerdings zu wünschen übrig lässt (ab Sommer gibt es einen Neuauftritt) und durch diese Broschüren, die an vielen Stellen in Duisburg ausliegen.

Unsere Führung fing in meinem „geliebten“ Speicherturm an. Er hat eine Kapazität 148 km Regallänge, von denen bisher ca. 100 km genutzt werden. Die Akten einer Behörde, einer Firma oder ein anderes Dokument hat es in den Turm geschafft, wenn es von Experten (zumeist Historiker) vorher begutachtet wurde und man positiv entschieden hat, dass das Schriftstück für die Geschichtsschreibung und zukünftige Forschungen Bedeutung hat. Im Turm sieht es dann so aus:

Vorne Akten, die noch keine Signatur haben, hinten säurebeständige Kartons, in denen nach weiterer Bearbeitung die Akten verpackt werden. In den Räumen herrscht eine gleichbleibende Temperatur von 16 Grad, normalerweise dürfen höchstens zwei Mitarbeiter in einem Raum sein, um die Luftfeuchtigkeit konstant halten zu können. Lichtquellen sollen so gut es geht, vermieden werden. (Keine Fenster im Gebäude, so langsam dämmerte es mir…).

Unser nächster Halt war der Raum, in dem Akten und Dokumente restauriert werden.

Das älteste Dokument im Haus ist aus dem 8. Jahrhundert, 1,5 Millionen Akten zur „Entnazifierung“ ist die höchste Aktenzahl zu einem Thema.

Weiter ging es in den Lesesaal, wo z.B. Wissenschaftler, Journalisten oder Ahnenforscher in die gewünschten Akten einsehen können, wenn diese vorher freigegeben wurden.

Oben rechts haben Archivare für einen Besucher alte Bücher und Akten herausgesucht. (Man muss seinen Besuch und seinen Suchwunsch vorher anmelden, damit genügend Zeit bleibt, Akten zusammenzutragen.) Rechts unten: Sogenannte Findebücher aus alten Zeiten, in denen man den Lagerplatz einer Akte nachschlagen kann. Natürlich sind heute die Suchmöglichkeiten auch digitalisiert, sowie eine Vielzahl der eingelagerten Akten.

Dass man eine Akte lesen darf, hängt u.a. vom Datenschutzgesetz ab, bei manchen Themen muss der Verfassungsschutz grünes Licht geben und auch welchen Grund man angibt, warum man in Akten einsehen möchte, ist wichtig. Frau Dr. Pilget gab uns einige sehr anschauliche Beispiele und erzählte uns von bewegenden Schicksalen, die zu einem Besuch des Landesarchivs führen.

Das Landesarchiv bietet auch eine Reihe von interessanten Veranstaltungen an, was mir bisher nicht bekannt war.

Ich mag das Gebäude immer noch nicht, aber was die Arbeit in einem Archiv angeht, war die Führung eine erfolgreiche Horizonterweiterung. Netterweise kam abends eine Sendung im Fernsehen über das Archiv eines Klosters. Da konnten wir dann schon an manchen Stellen „fachmännisch“ nicken.

Nicht wegsehen

                                                                                                                         

Jean Deichel verliert erst die Arbeit, dann seine Wohnung und schließlich hat er auch keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosenunterstützung. So lebt er in einem von einem Freund ausgeliehenen Van im 20. Arrondissement von Paris. Nach einem morgentlichen Kaffee in einer Bar und dem kostenlosen Besuch im Hallenbad streift er den ganzen Tag durch die Straßen des Arrondissements und beginnt jede Kleinigkeit zu registrieren. So bemerkt er eines Tages auch ein Graffittibild, das, ja was stellt es dar? Jean weiß sofort, dass dies etwas Grundlegendes zu bedeuten hat, denn seit der letzten Wahl vor ein paar Wochen herrscht in Frankreich eine unheilschwangere Stimmung. In den folgenden Tagen sieht er noch mehr Bilder, jetzt immer in Kombination mit einem Statement und er findet heraus, wer die Gruppe ist, die dieses Symbol verwendet. Dies ist Teil 1 der Geschichte.
In Teil 2 erzählt Jean, wie er sich der Gruppierung angeschlossen hat. Es sind Obdachlose und diejenigen, die keine gültige Papiere haben. Sie wollen mit ihren Graffittis friedlich auf sich aufmerksam machen, wollen, dass andere Menschen nicht weg- sondern hinsehen und die Politiker sich den Problemen stellen. Doch dann werden zwei aus der Gruppe von der Polizei gejagt. Sie springen in die Seine, können aber nicht schwimmen und ertrinken. Bei ihrer Beerdigung, die auch friedlich beginnt, kommen immer mehr Menschen dazu, es werden Tausende, die gegen die Arroganz der Besitzenden und gegen die Perspektivlosigkeit demonstrieren wollen. Die Polizei ist vor Ort, diese Friedlichkeit ist ihr unheimlich und sie hat keinen Grund, ein zu greifen. Doch dann eskaliert ganz plötzlich die Situation. Was war der Auslöser? Aber der Staat hat endlich ein Motiv, seine Macht zu zeigen und bestehende Verhältnisse wieder einzubetonieren.

Dieser schmale Roman (erschienen 2014 und basierend auf den Unruhen in Paris 2005), hat mich  beeindruckt. Ich hätte noch eine viel längere Besprechung schreiben können, doch soll ja noch etwas zum Lesen übrig bleiben. Was mich sehr geärgert hat, das sind einige Besprechungen in Zeitungen (z.B. Spiegel oder taz). Sie kritisieren z.B. den pathetischen Ton im 2. Teil, der meiner Meinung nach aber durch die traditionelle afrikanische Beerdigungszeremonie und die kurze Hoffnung der Beteiligten, dass es eine Aufbruchstimmung zum Besseren geben könnte, durchaus nachvollziehbar ist. Hier kommt die Arroganz der Schreiber zum Vorschein, eben die Arroganz, gegen die im Buch protestiert wird.