Für Langschläfer und Tagbegrüßer

Vorletzte Woche hatte ich das große Vergnügen, nein, ich möchte eigentlich lieber schreiben die große Ehre, bei einem Kaffeetrinken einer Gedichtrezitation beizuwohnen. Eine noch sehr agile alte Dame (95 Jahre) rezitierte das fünfstrophige Gedicht „Der Schatzgräber“ von Johann Wolfgang von Goethe. (Wer es lesen möchte: https://www.mumag.de/gedichte/goe_jw44.html).
Das war ergreifend und ein Funke sprang zu mir über. „Das möchte ich auch können!“, sagten mir mein Kopf und mein Bauch. Gedacht, getan.
Natürlich fing ich ganz klein an, denn das Auswendiglernen stand nie auf dem Stundenplan und im Berufsleben brauchte ich dieses Können auch nicht. Ich hatte früher zwar schon einmal ein paar Gedichte gelernt, damals motivierte mich aber nicht das leuchtende Beispiel der alten Dame und ich vergaß die Gedichte wieder schnell.
Mein „Gedächtnisworkout“ hat mit diesen beiden Gedichten begonnen:

Langschläfers Morgenlied von Mascha Kaléko

Der Wecker surrt. Das alberne Geknatter 
Reißt mir das schönste Stück des Traums entzwei. 
Ein fleißig Radio übt schon sein Geschnatter. 
Pitt äußert, daß es Zeit zum Aufstehn sei. 

Mir ist vor Frühaufstehern immer bange. 
… Das können keine wackern Männer sein: 
Ein guter Mensch schläft meistens gern und lange. 
— Ich bild mir diesbezüglich etwas ein … 

Das mit der goldgeschmückten Morgenstunde 
Hat sicher nur das Lesebuch erdacht. 
Ich ruhe sanft. — Aus einem kühlen Grunde: 
Ich hab mir niemals was aus Gold gemacht. 

Der Wecker surrt. Pitt malt in düstern Sätzen 
Der Faulheit Wirkung auf den Lebenslauf. 
Durchs Fenster hört man schon die Autos hetzen. 
— Ein warmes Bett ist nicht zu unterschätzen. 
… Und dennoch steht man alle Morgen auf.

Quasi als Gegenpol wählte ich als zweites Gedicht eins von Joachim Ringelnatz aus. Es heißt „Morgenwonne“.

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
Und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
Betiteln mich “Euer Gnaden”.

Aus meiner tiefsten Seele zieht
Mit Nasenflügelbeben
Ein ungeheurer Appetit
Nach Frühstück und nach Leben.