Der Mensch ist ein soziales Wesen, das seinen Seelenfrieden findet, wenn es zu einer oder mehreren Gruppen gehört. So die festverankerte Meinung in der Gesellschaft. Doch es gibt Menschen, die zwar von den anderen geschätzt werden, weil sie empathisch sind, oftmals frische Ideen haben und selbst über sich lachen können, die aber trotzdem lieber alleine sind und denen Aktivitäten in einer Gruppe (Teambildung auf der Arbeit, Betriebsfeste, Partys, Familienfeste, Gruppen-Freizeitaktivitäten) fast immer ein Graus sind. Sie langweilen sich, definieren sich nicht über ihre Arbeit, hassen Smalltalk und können Festen, die mit Traditionen verbunden sind, nichts abgewinnen. Diese Menschen sind weder extro- noch introvertiert, der amerikanische Psychiater Rami Kaminski nennt sie otrovertiert.

Kaminski hat in seiner jahrzehntelangen Berufspraxis viele Menschen betreut, die teilweise von anderen Ärzten als „nicht therapierbar“ abgestempelt wurden. Nach vielen Gesprächen erkannte er ein Verhaltens-und Wesensmuster bei seinen Patienten. Hier ein typischer Lebenslauf eines Otrovertierten:
Als Kleinkind wird von den Erwachsenen freudig bemerkt, dass das Kind sich stundenlang alleine beschäftigen kann. Beginnt die Kindergartenzeit, tauchen erste Irritationen auf. Das Kind lässt sich in eine Gruppe eingliedern, kapselt sich aber immer wieder ab. Die Schuljahre werden dann mit zunehmendem Alter oftmals zu einer Horrorzeit. Das Kind weiß inzwischen, dass Gruppenzugehörigkeit wichtig ist. Es möchte von einer Gruppe anerkannt werden, macht in der Gruppe mit und übernimmt auch die dort gängigen Meinungen und Interessen. Dabei verbiegt es sich derart, dass es zu psychischen Störungen kommen kann. Auch spürt das Kind, das es niemals wirklich zur Gruppe gehören wird. Verstärkt wird das seelische Dilemma oftmals von den Eltern, die ihre Kinder zu Gruppenaktivitäten zwingen oder von mitfühlenden Mitschülern, die nicht möchten, dass jemand ausgeschlossen wird.
Endlich ist die Schulzeit vorbei! Entweder ist ein Otrovertierter dann psychisch so angeschlagen, dass nur noch Alkohol oder Drogen helfen und/oder er eine Therapie braucht, um die gesellschaftlichen Erwartung vom Leben als „Gruppentier“ zu erfüllen oder er findet seinen eigenen Weg, sich so zu akzeptieren, wie er ist und sein Leben nach seinen eigenen Werten zu gestalten.
Wie sieht so ein Leben aus? Eine otrovertierte Person hat einige wenige gute Freunde, die sich gegenseitig ihre Freiheit lassen. In einer Gruppe verankert ist er höchstens dann, wenn diese sich mit etwas beschäftigt, das ihn interessiert. Da ein „Otro“ sich nicht an Gruppenmeinungen beteiligt, ist sein Selbstwertgefühl von anderen nicht abhängig, sein Selbstbewusstsein ist gesund. Gegenüber anderen Menschen ist er meistens unvoreingenommen und an ihren Geschichten wirklich interessiert. Er hinterfragt vieles, ist lieber stiller Beobachter und macht sein eigenes Ding. Jeder Tag ist wichtig für ihn, denn er ist kreativ und seine Ideen sind für Gruppenmenschen manchmal etwas spleenig oder so unerwartet, dass die Zeit für die Durchsetzung noch nicht reif ist. Ein Otro ist zufrieden, wenn er alleine sein Wohlfühlleben gestalten kann. Er schafft sich viele schöne Erinnerungen, denn diese kann man ihm niemals wegnehmen.
Seine Lebenseinstellung kommt ihm im Alter zu gute. Während Gruppenmenschen unter dem fortschreitenden Verlust von Freunden leiden, u.U. vereinsamen und merken, dass sie ihr Leben zu sehr an eine Gruppe angepasst haben, genießt der Otro, sofern er gesund ist, bis zum letzten Atemzug sein Leben.
Die Meinung über dieses Buch ist im Internet geteilt. Kaminski wird vorgeworfen, dass er den Begriff der Otroversion nur zu Marketingzwecken erfunden hat und die beschriebenen Wesenszüge in der Forschung schon lange bekannt sind. Das kann ich nicht beurteilen, doch dieses Buch erreicht erstmals betroffene Menschen, die keinen Therapeuten haben und bisher alleine versuchten, mit ihren Zweifeln zurecht zu kommen und ihr Leben zu wuppen.
“Wie schön es ist, nicht dazugehören zu müssen“- Ein passender Buchtitel…